Jörg Melzer: Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 20), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 480 S., ISBN 978-3-515-08278-5, EUR 68,00
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Modern geltende' alternative Anschauungen, Bewegungen und Lebenskonzepte haben ihre eigene, oftmals nur wenig reflektierte Geschichte. So ist es erfreulich, dass sich Jörg Melzer mit der Geschichte der Vollwertkost, zu der eine geschlossene Darstellung bislang nicht vorlag, in seiner nun vorliegenden Arbeit auseinandergesetzt hat.
Schon der Titel und das Inhaltsverzeichnis dieser - von der Werner-Kollath-Stiftung preisgekrönten - medizinhistorischen Dissertation zeigen, dass sich der Verfasser viel vorgenommen hat: Auf 400 Seiten will er die Geschichte der Vollwerternährung mit einem Fokus auf das 20. Jahrhundert abhandeln. Dabei schlägt er den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart: Das erste Kapitel behandelt die Geschichte der antiken Diätetik, im zweiten Kapitel werden der Rückgriff der Medizin der Neuzeit auf diätetische Konzepte und die Entwicklung der Naturheilkunde im 19. Jahrhundert sowie der Erfolg des Vegetarismus (am Beispiel Dänemarks) im beginnenden 20. Jahrhundert beschrieben. Im dritten Kapitel folgt die Darstellung der Ernährungspolitik im Nationalsozialismus. Die im Nationalsozialismus propagierte "Vollkornernährung" zeige "viele Überschneidungspunkte" mit der von Werner Kollath 1942 entwickelten "vollwertigen Nahrung": "Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit das Eintreten für 'Vollkorn' und 'Vollwert' mit Zielen der nationalsozialistischen Volksbewegung im Dritten Reich korrespondiert" (11). Im vierten Kapitel wird die Nachkriegsgeschichte dargestellt. Nach 1945 erreiche "die Vollwerternährung [...] institutionell und medizinisch ihren bisherigen Höhepunkt" (11), wobei sowohl personelle Kontinuitäten als auch neue Protagonisten auszumachen sind. Vollwerternährung "wird aus unterschiedlichen Gründen von der Lebensreform-, Lebensschutz- und Umweltschutzbewegung, von Naturheilkundlern, Ernährungsmedizinern sowie Haushalts- und Ernährungswissenschaftlern aufgegriffen" (11). Abschließend widmet sich Melzer in seinem fünften Kapitel der Zukunft der Vollwerternährung.
Die Fülle des von Melzer zusammengetragenen Materials ist beeindruckend. Doch erscheint die Arbeit an vielen Stellen auch problematisch: So vermisst der Leser zu Beginn eine begriffshistorische Einführung, was man eigentlich unter "Vollwerternährung" zu verstehen hat. Melzer verweist auf eine aktuelle Definition, um dann kurz auszuführen, dass sich Menschen längst vor Zustandekommen dieser Definition mit Ernährung auseinandergesetzt haben. Im historischen Längsschnitt werde deutlich, "dass der Begriff 'vollwertig' in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutung gewinnen kann" (9).
Mit dieser knappen Einführung in den Gegenstand korrespondiert, dass Melzer auch darauf verzichtet, seiner Arbeit einen Überblick über den Forschungsstand voranzustellen. Dies wäre jedoch sinnvoll gewesen. Denn bei der Lektüre der streckenweise fast vollständig aus den - zumeist gedruckten - Quellen geschriebenen Arbeit vermisst man vielfach die Bezugnahme auf wissenschaftliche Forschungsliteratur. Eine stringente Auswertung der Literatur an der einen oder anderen Stelle hätte nicht zuletzt zu wünschenswerten Straffungen des Textes führen können. Besonders in der weitläufigen Beschreibung der antiken Diätetik oder bei den biografischen Ausführungen zu bedeutenden (und biografisch vielfach behandelten) Naturheilkundlern des 19. Jahrhunderts wären Kürzungen sinnvoll gewesen.
Zu einigen behandelten Aspekten und Institutionen liegen relevante Aktenbestände vor, die Melzer nicht zur Kenntnis nimmt. So verwundert es beispielsweise, dass Melzer im Bundesarchiv nur Personalunterlagen (Bestand ehemalig BDC) auswertet, die Überlieferungen zum Reichsnährstand oder zum Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft aber nicht berücksichtigt. Auch die gedruckten Quellen, das heißt die Primärliteratur zur Behandlung seines Themas zentraler Autoren, erscheinen oft eher zufällig aufgefunden als systematisch recherchiert. Dies ist umso bedauerlicher, als Melzer sehr viele interessante Stränge der Geschichte der Vollwerternährung und einiger ihrer Protagonisten aufnimmt.
Doch Melzers Buch bietet auch wichtige neue Erkenntnisse und gute Zusammenfassungen. So arbeitet Melzer heraus, dass die Ernährungswissenschaft "in den Dienst der NS-Politik" gestellt wurde und zwar mit zwei Zielen: Sie diente "der ernährungswirtschaftlichen Autarkie des nationalsozialistischen Staates und der Maximierung der Leistungsfähigkeit des 'Volkskörpers'" (207). Die aus diesem Kontext heraus zu verstehenden ernährungsphysiologischen Menschenversuche in einzelnen Konzentrationslagern sieht Melzer allerdings an anderer Stelle als Beispiel dafür, "welche menschenverachtende Form die Ideologisierung der Ernährungspolitik im Dritten Reich annahm" (418).
Die Stärken des Buches liegen zum Beispiel in der Darstellung der Funktion des populären Schweizer Ernährungswissenschaftlers Max Bircher-Benner und dessen vielfältige positive Bezugnahmen auf die Nationalsozialisten vor und nach 1933, in der Aufarbeitung von Leben und Werk Werner Kollaths sowie in der Darstellung der Geschichte der Vollwerternährung nach 1945, wobei es hier dem Autor gelingt, die schwer überschaubare Vielfalt von Vereinen und Institutionen, die sich in der Bundesrepublik mit dem Thema beschäftigten, übersichtlich darzustellen. Mit dem Unterkapitel über den Mediziner Herbert Krauß wendet sich Melzer auch der Geschichte und Bedeutung der Vollwertkost in der DDR zu. Auch zu einer Reihe weiterer Wissenschaftler liefert er wichtige biografische Detailinformationen, so etwa zu dem populären rechtsradikalen Arzt und Ernährungstheoretiker Max Otto Bruker. Durch den langen Untersuchungszeitraum werden überdies inhaltliche (wie auch personelle) Kontinuitäten einmal mehr veranschaulicht.
Trotz der notwendigen kritischen Einwände bleibt als Fazit festzuhalten, dass die künftige Forschung kaum an dieser material- und facettenreichen Studie wird vorbeigehen können. Sie bildet nicht nur den ersten Versuch einer Historiografie der Vollwertkost, sondern liefert generell einen wichtigen Beitrag zu einer Geschichte der Ernährungswissenschaften, die bislang in der Wissenschafts- und Medizingeschichte eher ein Schattendasein fristet.
Christoph Kopke