Rezension über:

Peter-Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793-1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; Bd. 9), Osnabrück: fibre Verlag 2003, 621 S., ISBN 978-3-929759-73-0, EUR 37,80
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Rezension von:
Lutz Oberdörfer
Historisches Institut, Universität Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Lutz Oberdörfer: Rezension von: Peter-Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793-1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen, Osnabrück: fibre Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6634.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Peter-Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit 1793-1997

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In seiner voluminösen Publikation, die 2002 mit dem Katarzyna-Cieślak-Preis für die beste Arbeit zur Kulturgeschichte Danzigs, Pommerns und Pommerellens ausgezeichnet wurde, stellt sich der Verfasser die anspruchsvolle Aufgabe, den Umgang mit den Puzzlestücken der wechselvollen Danziger Geschichte nachzuzeichnen und zu zeigen, wie sich die Rolle des Vergangenen in der lokalen Gegenwart unter sich ständig verändernden Rahmenbedingungen wandelte. Den zeitlichen Bogen spannt er dabei zwischen der Inbesitznahme der Stadt durch Preußen im Jahre 1793 und der Tausendjahrfeier von 1997. Loew, selbst einige Jahre Bewohner Danzigs, hat in bewundernswerter Fleißarbeit die einschlägige und weniger einschlägige deutsch- und polnischsprachige Literatur zur Geschichte Danzigs beziehungsweise zu Einzelaspekten ausgewertet und dabei einer kritischen Betrachtung unterzogen. Der Leser profitiert zusätzlich von den Schwerpunkten vorangestellten Hinweisen im Text zum Forschungsstand und zu grauen wie weißen Flecken, die stets sachlich gehalten sind.

Die dem Rezensenten aus eigener Erfahrung geläufige schwierige Quellenlage gerade für das 19. Jahrhundert sowie das sehr frühe 20. Jahrhundert hat Loew durch eingehende Studien der örtlichen Presse, soweit sie denn vorhanden ist, recht gut ausgleichen können. Gleichwohl bleibt das auch dem Autor bewusste "alte" Problem, inwieweit es überhaupt möglich ist, aus veröffentlichten Geschichtsbildern und Wertungen wie Anleitungen zur Betrachtung einigermaßen gesicherte Kenntnisse darüber zu erlangen, inwieweit damit das breite Publikum erreicht und beeinflusst und schließlich von der spezifischen Geschichte geprägt wurde, beziehungsweise - gerade was die Medien angeht - wie stark veröffentlichte Meinung, die zumal nur in Diktaturen weitgehend monolithisch ist, mit der öffentlichen Meinung beziehungsweise öffentlichen Meinungen kongruent war. Insofern scheint mir auch die vorliegende Arbeit primär ein Beitrag zur Kulturgeschichte der lokalen Eliten im Zeitenwandel zu sein. Dessen ungeachtet - was Leoncini in seinem anregend eingeleiteten ("Die sieben 'W' der Geschichtskultur und Danzig als Gegenstand einer Geschichte der Geschichtskultur...") Buch auf deutlich mehr als 500 Textseiten ausbreitet, kann durchaus als Pionierarbeit bezeichnet werden, und zwar sowohl für Danzig als auch generell für das noch unzureichend beackerte Feld der Erforschung lokaler Geschichtskulturen. Trotz einer enormen Anmerkungsdichte ist die Arbeit flüssig und lesbar geschrieben. Wer weiß, dass die Stadt am Unterlauf der Weichsel nicht nur wichtiger Ort deutsch-polnischer Begegnung war, sondern häufig auch Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen zwischen beiden Nationen, ja zeitweise geradezu Symbol deutsch-polnischer Zwietracht, der wird besonders begrüßen, dass der Verfasser ganz bewusst auf einen nationalen, überhaupt einen einseitigen, von politischen Zwecken determinierten Blickwinkel verzichtet. Loew schreibt auch nicht in der Rolle eines Schiedsrichters. Vor allem geht es ihm meines Erachtens darum, primär aus der Perspektive der Quellen zu zeigen, wie es war und gleichzeitig die Hintergründe für ein besseres Verständnis aufzuzeigen. Dabei legt der Verfasser anschaulich dar, wie Geschichtsbetrachtungen, lokalhistorische Deutungen, die Interpretation des Überlieferten im Widerstreit von Interessen, deren Wandel sowie sich ändernden Machtverhältnissen nicht zuletzt Legitimierungszwecken unterworfen wurden.

Die allgemeinen Schwerpunktsetzungen der Publikation sind einleuchtend und wie die weitere Untergliederung sinnvoll. Gleichwohl wäre eine noch intensivere Ausleuchtung des Themas in Zusammenhang mit dem größten Einschnitt in der wechselvollen Geschichte Danzigs wünschenswert gewesen. So bedeutsam etwa 1793 oder die in Versailles bestimmte Schaffung der "Freien Stadt Danzig" als Zäsuren waren, im Unterschied zu 1945/46 blieb die städtische Bevölkerung doch dieselbe, und wir haben deshalb keinen völligen Kontinuitätsbruch der wichtigsten Rezipienten lokalgeschichtlicher Bewertungen und Deutungen. Nebenher taucht hierbei die generelle Frage auf, inwieweit es überhaupt möglich ist, totale Umbrüche faktisch nivellierende Kontinuitäten zu konstruieren, wo keine oder kaum welche vorhanden sind. Freilich arbeitet Loew in verdienstvoller Weise heraus, wie die neuen Machthaber aus einsichtigen Gründen mit der lokalen Geschichte umgingen beziehungsweise umzugehen suchten. Doch wie wurden die angebotenen Interpretationen und Deutungen von den neuen Bewohnern auf- und angenommen? Gab es deutliche Unterschiede etwa zwischen den regional und lokal ansässigen Kaschuben, den aus Kernpolen Zuwandernden und jenen Vielen, die im Zuge der von Stalin durchgesetzten und von der polnischen Exilregierung bis zuletzt heftig abgelehnten Großmächteentscheidung zur neuen Ostgrenze Polens subjektiv unfreiwillig ihre alte Heimat verlassen mussten und jetzt in der bis vor kurzen noch deutschen Stadt an der Mottlau angesiedelt wurden? Wie nahm der durchschnittliche Neu-Danziger gerade der ersten Generation das für ihn Fremde an, wie ging er mit dem ihm trotz aller alten wie neuen Propaganda von der "polnischen Seehauptstadt" letztlich doch unbekannten historischen Erbe Danzigs, mit der deutschen Geschichte der Stadt um? Waren diese Fragen in den schwierigen Nachkriegsjahren mit ihren Sorgen und Nöten überhaupt von Relevanz für die Masse der Bewohner?

Für weitere und sicher nicht einfache Forschungen dazu hat Loew allerdings eine gute Grundlage gelegt. Ähnliches gilt für seine kenntnisreichen Aussagen zur Zäsur von 1989/90 und den folgenden Entwicklungen bis zum Millennium. Insgesamt leistet die Publikation somit einen gewichtigen Beitrag zur Kulturgeschichte Danzigs, an deren Gründlichkeit und faktischem Gehalt kein Zweifel besteht. Es ist zu hoffen, dass sich der Wunsch des Verfassers nach weiteren Fallstudien erfüllen wird, in deren Ergebnis eine vergleichende Geschichte lokaler Geschichtskulturen stehen könnte.

Lutz Oberdörfer