Rezension über:

Simone Zurbuchen: Patriotismus und Kosmopolitismus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne, Zürich: Chronos Verlag 2003, 199 S., ISBN 978-3-0340-0661-3, EUR 25,00
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Rezension von:
André Holenstein
Historisches Institut, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
André Holenstein: Rezension von: Simone Zurbuchen: Patriotismus und Kosmopolitismus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition und Moderne, Zürich: Chronos Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/6191.html


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Simone Zurbuchen: Patriotismus und Kosmopolitismus

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Die acht Beiträge dieses Bandes sind teilweise bereits publiziert worden; sie wurden nunmehr überarbeitet und "zu einem Ganzen integriert" (5), was sich an den zahlreichen Querverweisen zwischen den Kapiteln und an der synthetisierenden Einleitung der Verfasserin ablesen lässt. Dennoch lassen sich die Beiträge nach wie vor als Einzelstudien lesen. Der umstrittenen Frage nach der Besonderheit der schweizerischen Aufklärung nähert sich Simone Zurbuchen in ihren Studien unter zwei Gesichtspunkten und mit zwei unterschiedlichen Erkenntnisinteressen an.

Zurbuchen geht es einerseits um die Einordnung des schweizerischen "Patriotismus" in die Tradition des "klassischen Republikanismus" beziehungsweise "Bürgerhumanismus". Sie leistet damit einen Beitrag zur Wiederaneignung einer Tradition im alteuropäischen politischen Denken, welche in der kontinentaleuropäischen politischen Ideengeschichte angesichts der Dominanz des liberalen Paradigmas lange Zeit weitgehend ausgeblendet geblieben ist, während die Auseinandersetzung mit der Tradition des klassischen Republikanismus in der anglo-amerikanischen Forschung seit den Arbeiten Hans Barons und später John Pococks und Quentin Skinners schon länger ihren festen Platz behauptet.

"Patriotismus" und "Kosmopolitismus" sind - so lässt sich der Titel dieses Bandes lesen - in zweifacher Hinsicht wesentliche Merkmale der Schweizer Aufklärung gewesen. Diese hat das Nationalbewusstsein der Schweizer gestärkt ("Helvetismus"), und zugleich haben die Schweizer Aufklärer in hohem Maße am grenzüberschreitenden Wissenstransfer und Meinungsaustausch in der europäischen Gelehrtenrepublik teilgehabt. Zahlreich waren sie in den Zentren der europäischen Aufklärung tätig, in die gelehrte Kommunikation von Paris bis St. Petersburg eingebunden, und zudem spielte die mehrsprachige Schweiz eine zentrale Rolle für die Vermittlung zwischen der französisch- und der deutschsprachigen Aufklärung. Ebenso bezeichnen "Patriotismus" und "Kosmopolitismus" wichtige, sich wiederum keineswegs ausschließende Positionen, die die Intellektuellen in der Schweiz des 18. Jahrhunderts in ihren Kommentaren zum geistigen, kulturellen und ökonomischen Wandel des späten Ancien Régime am Übergang in die Moderne bezogen haben.

Der "Patriotismus" rückte in den Mittelpunkt der theoretisch-literarischen und politischen Selbstvergewisserung der geistigen Eliten in den Republiken des eidgenössischen Staatenbundes, für die sich die Frage immer drängender stellte, ob und inwiefern ihre kleinen Staatswesen den Herausforderungen der sich globalisierenden Ökonomie und der sich ausbreitenden und verfeinernden materiellen Kultur gewachsen seien. Die kontroverse Erörterung des so genannten Luxus und seiner Folgen für die moralischen und politischen Grundlagen des Gemeinwesens besaß in der Eidgenossenschaft prinzipiellen, radikalen Charakter, gründete doch die Lebens- und Überlebensfähigkeit der Republik in der politischen Tugend - im Patriotismus eben - ihrer Bürger. In diesem auf den italienischen Bürgerhumanismus zurückgehenden theoretischen Horizont des "klassischen Republikanismus" entspann sich in der Eidgenossenschaft seit dem späten 17. Jahrhundert ein patriotischer Diskurs um die Vergewisserung und Erneuerung des politischen und moralischen Fundaments der eigenen Freistaatlichkeit.

Ein zentrales Thema des Buches, das in mehreren Kapiteln behandelt wird, liegt in der Darstellung der kontroversen Antworten, welche Exponenten der schweizerischen Aufklärung auf diese Herausforderung hin formuliert haben. Die Verfasserin entwickelt dabei die These, "dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei miteinander nicht zu vereinbarende Begriffe des Patriotismus aufeinander trafen, nämlich der 'philanthropische' oder kosmopolitische Patriotismus Isaak Iselins und der 'radikal-politische' Patriotismus von Johann Jakob Bodmer und seinen Zürcher Schülern" (17 f.). Letzterer lässt sich auch in den zivilisationskritischen Discours von Jean-Jacques Rousseaus fassen und soll - so eine weitere These der Verfasserin - wesentlich auf Beat Ludwig von Muralts Lettres sur les Anglais et les Français et sur les Voyages zurückzuführen sein. Allerdings überschätzt die Verfasserin meines Erachtens an dieser Stelle die Originalität von Muralts und verkennt, wie sehr von Muralt seinerseits an der Konstruktion des "Mythos Schweiz" nur mitgewirkt und dabei auf Traditionen und Topoi aufgebaut hat, die sich in der alteidgenössischen Erinnerungskultur sowohl der Eliten wie auch der breiteren Bevölkerung bis ins spätere 15. und 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Iselin und Bodmer vertraten unterschiedliche Vorstellungen der politischen Tugend und damit auch voneinander abweichende Reformprogramme, die die schweizerischen Republiken aus ihrer politischen Erstarrung befreien und sie vor dem moralischen Verfall bewahren sollten. Bodmer idealisierte im Bewohner der Alpen, der fern von der Zivilisation ein frugales, tugendhaftes Leben führte, den "edlen Wilden" und schrieb damit die Typisierung des schweizerischen Nationalcharakters fest, während Iselin - unter dem Einfluss einer zukunftsoffeneren Geschichtsphilosophie - den ökonomischen Wandel nicht grundsätzlich als Bedrohung wahrnahm, sondern als Bedingung der Möglichkeit für den Fortschritt von Wissenschaft und Künsten setzte.

In ihrer Einleitung verortet Zurbuchen ihre Texte aber nicht nur in der aktuellen ideengeschichtlichen Forschung. Als Politikphilosophin will die Verfasserin auch einen Beitrag zur aktuellen philosophischen Debatte liefern. Die Diskussion des Patriotismus als politische Tugend der Bürger in der Tradition des "klassischen Republikanismus" hat zum Ziel, den Begriff von seinen nationalistischen Konnotationen, die ihn diskreditiert haben, zu befreien. Für die aktuellen Diskussionen um das Konzept einer "Staatsbürgerschaft" jenseits von ethnischen oder kulturellen Gemeinsamkeiten soll der Gedanke eines "gemässigten Patriotismus" (9) bereit gestellt werden, für den die Loyalität des Bürgers gegenüber dem Staat auf die Gemeinsamkeit der Verfassung und dabei insbesondere auf die universalistischen freiheitlichen Grundsätze bezogen ist (J. Habermas: "Verfassungspatriotismus"). Damit sollte der "Patriotismus" in seiner kosmopolitischen Ausrichtung grundsätzlich frei von nationalistischer Verengung sein. Die Verfasserin weiß allerdings sehr wohl darum, dass ein solches "Konzept des gemäßigten Patriotismus" umstritten ist, weil es "immer wieder um die Frage [gehe], ob der Patriotismus sich tatsächlich vom Nationalismus trennen lasse" (10). Die historische Auseinandersetzung mit dem klassischen Republikanismus vermöge in dieser Debatte, so die Überzeugung der Verfasserin, eine wichtige Rolle zu spielen, weil diese Tradition des politischen Denkens ein Konzept von Staatsbürgerschaft überliefere, "das nicht auf nationale Identität, sondern auf die Erhaltung der Freiheit in der Republik bezogen ist" (10).

Das Anliegen der Verfasserin, den argumentativen Zusammenhang zwischen den ursprünglich gesondert publizierten Einzelkapiteln des Bandes herauszustreichen, hätte durch ein Personenregister noch besser eingelöst werden können. Eine Bibliografie mit den Angaben zur Primär- und zur Forschungsliteratur beschließt den Band.

André Holenstein