Alexander J. Fisher: Music and Religious Identity in Counter-Reformation Augsburg, 1580-1630 (= St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot: Ashgate 2004, XVI + 345 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-0-7546-3875-9, GBP 59,50
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"Luthers Lieder haben mehr Seelen umgebracht als seine Schriften oder Reden", schrieb der Jesuit Adam Contzen um 1620 - und empfahl als Gegenmittel die Verbreitung volkssprachlicher katholischer Gesänge. Anschaulicher lässt sich die religionspolitische Funktion der Musik im konfessionellen Zeitalter kaum belegen. Und nirgends war diese Funktion von größerer Brisanz als in der Reichsstadt Augsburg, die seit dem nach ihr benannten Friedensschluss (1555) katholisch regiert, aber mehrheitlich von Protestanten bevölkert wurde. Wie sich die daraus entstehenden konfessionellen Spannungen im Medium der geistlichen Musik artikulierten, das analysiert die Studie des Musikwissenschaftlers Alexander J. Fisher (in der der eingangs zitierte Satz Contzens auf Seite 110 nachgewiesen ist).
Die Anlage des Buchs ist, entsprechend der religiösen Topografie Augsburgs, zweigeteilt. Der Einleitung folgen zwei Kapitel (etwa 60 Seiten) über die protestantische und vier (beinahe 200 Seiten) über die katholische Musikpraxis. Dieses scheinbare Missverhältnis ist historisch begründet; denn die Augsburger Lutheraner waren trotz ihres Rechts auf ungehinderte Religionsausübung latent in der Defensive. Anhand einer Reihe von Verhörprotokollen (der "Urgichtensammlung" des Augsburger Stadtarchivs) kann Fisher in Kapitel 2 zeigen, wie protestantische Lieder, die polemische, anti-katholische Zeitkritik übten, zum Gegenstand peinlicher Befragungen werden konnten. [1] Dabei wurden der Besitz und die Verbreitung von Liedern in schriftlicher Form härter bestraft als ihre bloße Darbietung: Die Autoritäten hatten ein Bewusstsein für die Gefahren des Mediums Schrift.
Kapitel 3 zeigt, wie der Komponist Adam Gumpelzhaimer, Kantor an Augsburgs größter protestantischer Kirche St. Anna, sich um ein 'ökumenisches', ausgewogenes Verhältnis zwischen katholischen und protestantischen Kompositionen im liturgischen Repertoire bemühte. In seinen eigenen Kompositionen vermied es Gumpelzhaimer, Texte oder Melodien mit polemischer Konnotation zu verwenden; so vertonte er Psalm 124 nicht in der Übersetzung von Justus Jonas ("Wo Gott der Herr nicht bei uns hält"), die allzu offen auf die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten anspielte, sondern in einer 'neutraleren' Übersetzung (76-78).
Im Gegensatz dazu war die katholische Kirchenmusik in Augsburg durch immer stärkere Betonung der eigenen religiösen Identität gekennzeichnet (Kapitel 4). Insbesondere im Bereich des deutschsprachigen Kirchenlieds wurde ängstlich darauf geachtet, keine protestantischen Neuschöpfungen zuzulassen - auch und gerade nicht, wenn sie konfessionell neutral erschienen, wie Bischof Heinrich V. von Knöringen in seinem "Liber ritualis" (1613) betonte (115 f.). Ein Überblick über die prominentesten katholischen Komponisten Augsburgs bietet vereinzelte Musikbeispiele und (recht allgemein gehaltene) Analysen.
Die Jahrzehnte um 1600 sind bekanntlich eine Zeit großer musikgeschichtlicher Umbrüche, die sich von Italien aus durch ganz Europa verbreiteten. Tatsächlich dürfte Gregor Aichinger als erster deutscher Komponist die neue Technik des Generalbassspiels diesseits der Alpen systematisch verwendet haben ("Cantiones ecclesiasticae", 1607). Aichinger hat diese und andere Innovationen (Vokalkonzert) jedoch nicht so sehr in seinen liturgischen Werken verwendet, sondern in 'freien' Andachtskompositionen, die weit stärker als jene zur Konstruktion einer spezifisch katholischen Identität beitrugen (Kapitel 5). Hier wurden durch Marien- und Eucharistiegesänge sowie Passionsmusik besonders symbolträchtige Themen konfessioneller Kontroversen aufgegriffen und vor allem in den Augsburger Bruderschaften gepflegt. Bei aller bewusst katholischen Themen- und Textwahl hat es jedoch, wie Fisher (224) betont, "no 'confessional music' with respect to style" gegeben; die italienischen Neuerungen wurden auch von protestantischer Seite aufgegriffen. Betrachte man Musik, so Fisher, jedoch als "cultural practice [...], one that embraces style but also the circumstances of the music's creation, the nature of its performers and listeners, then the idea of 'confessional music' becomes not only possible but necessary" (224).
Die Konsequenzen dieser Auffassung werden deutlich, wenn in den Kapiteln 6 und 7 Prozessionen und Pilgerfahrten behandelt werden: Die Musik war etwa in der Fronleichnamsprozession (die seit 1604, zweifellos bewusst, durch protestantische Stadtteile geführt wurde) nur Teil eines "multimedia spectacle" (226); und aus ihrem Zusammenwirken mit (getragenen) Bildern und Fackeln, der theatralischen Zurschaustellung von blutigen Selbstgeißelungen und so weiter entstand die spektakuläre Außenwirkung, die nachweislich auch Protestanten anlockte und faszinierte. Die Litanei von Loreto, die Johann Haym von der Brüderschaft der Pilgerfahrt zum nahe gelegenen Andechs 1582 drucken ließ, mag musikalisch in ihrem rhythmisch einfachen, homophonen Stil nicht besonders interessant sein - aber gerade dieser Stil war der Bewegung des feierlichen Schreitens angemessen wie kein anderer (259-261).
An einer Vielzahl von Beobachtungen kann Fisher zeigen, wie sich die konfessionellen Spannungen im Fortschreiten des 16. Jahrhunderts immer mehr verschärften und die auf Ausgleich und Aufrechterhaltung der Ordnung bedachte Politik des katholischen Magistrats allmählich ins Wanken geriet - etwa in der zunehmenden Spezialisierung katholischer und protestantischer Drucker auf 'ihre' Musik. Das kaiserliche Restitutionsedikt von 1629 zerstörte das labile interkonfessionelle Gleichgewicht endgültig; den Konsequenzen ist das letzte Kapitel gewidmet. Städtische Spione zogen nachts lauschend durch die Straßen, um jede für die Sache des Protestantismus erhobene Stimme in Gesang, Lesung oder Predigt ausfindig zu machen (282-285). 1632 wurde die Stadt in den Dreißigjährigen Krieg hineingezogen, von dessen ruinösen Folgen sich auch ihr Musikleben nicht mehr erholen sollte. Es mutet wie eine Ironie der Geschichte an, dass sowohl Gustav Adolfs Einzug 1632 als auch die Wiederkehr des katholischen Klerus 1635 mit einem Te Deum gefeiert wurden, jenem altehrwürdigen politischen Festgesang [2], den beide Konfessionen für sich in Anspruch nahmen.
In der Fülle ihrer Belege und der Ausgewogenheit und Übersicht der Darstellung ist Fishers Studie eine lohnenswerte Lektüre nicht nur für Musikwissenschaftler, sondern für alle an der Kulturgeschichte des konfessionellen Zeitalters Interessierten. Sein Ansatz, Musik als kulturelle Praxis zu begreifen, und die Einbeziehung ungewöhnlicher Quellen wie der "Urgichtensammlung" oder theologischer Schriften führt Fisher weit über die ältere Institutionengeschichtsschreibung der musikalischen Stadtforschung hinaus. Leider bietet die Arbeit viele Quellenzitate nur in englischer Übersetzung (lediglich die Verhörprotokolle des 2. Kapitels werden in einem Anhang dokumentiert); trotz der durchaus sinngetreuen Übersetzungen wären doch ausführlichere Originalzitate wünschenswert gewesen.
Anmerkungen:
[1] Die Rolle von Liedern in der konfessionellen Polemik ist eingehend untersucht worden durch Rebecca Wagner Oettinger: Music as Propaganda in the German Reformation, Aldershot 2001. Oettinger beschränkt sich aber auf den Zeitraum 1517 bis 1555.
[2] Vgl. Sabine Žak: Das Tedeum als Huldigungsgesang, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 102 (1982), 1-32.
Wolfgang Fuhrmann