John Buckler: Aegean Greece in the Fourth Century BC, Leiden / Boston: Brill 2003, XI + 544 S., ISBN 978-90-04-09785-8, EUR 179,00
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John Buckler legt eine detailgenaue Darstellung insbesondere der politisch-militärischen Ereignisgeschichte der ägäischen Staatenwelt im 4. Jahrhundert vor Christus vor. Indem er als chronologische Eckdaten 404 und 336 wählt, braucht er offene Kontroversen um die turbulente Geschichte Festlandgriechenlands, Makedoniens und der Ägäiswelt vom Regierungsantritt Alexanders bis zur Schlacht von Ipsos 301 nicht zu behandeln.
Buckler diskutiert die Verfassungsordnungen föderaler Staatswesen (Koina) des 4. Jahrhunderts kenntnisreich und mit unverhohlener Sympathie (insbesondere die Koina der Boioter und der Thessaler), während er zum Beispiel die interessante Entwicklung der athenischen Demokratie zwischen 403 und 322 nicht näher verfolgt. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Grundprobleme und Entwicklungen dieser Epoche, wie die Versorgungs- und Verschuldungsprobleme vieler Poleis, die steigende Zahl von Flüchtlingen, Verbannten, Metoiken und Xenoi gegenüber dem privilegierten Kern von vollberechtigten Bürgern in wichtigen Städten, die Rolle der Sklaverei, der Status und die Lebenswelten von Frauen und Kindern kommen eher am Rande der politisch-militärischen Ereignisgeschichte zur Sprache. Nur auffällig selten fallen Bemerkungen zur Kultur- und Geistesgeschichte. Angesichts der umfassenden Kenntnis Bucklers von der griechischen Geschichte des 4. Jahrhunderts bedauert man es auch, dass er nicht ausführlich auf den spezifischen Epochencharakter des Zeitalters Philipps II. und Alexanders des Großen als einer Übergangszeit eingeht, in der spätklassische und frühhellenistische Strukturen und Phänomene in der ägäischen Staatenwelt nebeneinander zu beobachten sind. Buckler dokumentiert seine literarischen, epigrafischen und numismatischen Quellen akribisch in langen Fußnoten und ergänzt sie regelmäßig durch zahlreiche, auf langjährigen Reisen in Griechenland gewonnene topografische Beobachtungen. Mehrere Beobachtungsdaten für einen einzigen Ort sind allerdings nur dann hilfreich, wenn sich die topografischen Verhältnisse zwischen den genannten Beobachtungsdaten radikal verändert haben. In einem Handbuch von diesem hohem Niveau wäre es didaktisch hilfreich gewesen, ein zusammenfassendes Kapitel über die Hauptquellen der Epoche einzulegen und deren Quellenwert, Überlieferungszustand und Abhängigkeitsverhältnisse zu diskutieren.
Buckler sieht die griechische Geschichte des 4. Jahrhunderts geprägt durch das machtpolitische Scheitern und konzeptionelle Versagen der führenden Polisstaaten Athen, Sparta und Theben. Hierin folgt er der resignativen Analyse Xenophons am Ende seiner Hellenika zum Jahre 362 vor Christus (350: "The Greek political system had virtually reached bankruptcy"). Vor dem Machtaufstieg Philipps II. erkennt Buckler keine zukunftsweisende politische Vision und kein tragfähiges Konzept für die ägäische Griechenwelt. Die Ressourcen selbst der größten Poleis blieben begrenzt. Auch als Hegemonialmacht einer Symmachie oder einer Amphiktyonie seien die großen Poleis im 5. und 4. Jahrhundert unfähig gewesen, eine stabile und entwicklungsfähige Friedens- und Sicherheitsordnung für Hellas zu entwerfen, welche auch für die kleinen und schwachen Poleis annehmbar gewesen wäre. Hoffnungsvollere Ansätze boten dagegen Buckler zufolge die Koina, die föderalstaatlichen Zusammenschlüsse. Die verschiedenen kollektiven Friedens- und Sicherheitsordnungen seit dem Königsfrieden von 386 (Koinai eirenai) enthielten zwar von Anfang an ein großes innovatives Potenzial, konnten aber ihren hohen Anspruch angeblich erst im 'Korinthischen Bund' Philipps II. nach 337 einlösen.
Hegemonie, Autonomie und Frieden waren nach allgemeiner Auffassung drei große ideologische Leitkonzepte des 4. Jahrhunderts Ihre Verwirklichung scheiterte nach Bucklers Meinung immer wieder unter großen Opfern oder blieb doch jeweils nur unvollkommen und prekär. Erst mit Philipp II. sei die Monarchie als Verfassungsform der spätklassischen Epoche im ägäischen Raum allgemein akzeptabel geworden. Er habe sozusagen einen historischen Kompromiss zwischen königlichem Machtanspruch und städtischer Freiheit aufgezeigt. Wie fragil diese Ordnung nach 338/7 jedoch blieb, lernten zahlreiche Poleis schmerzhaft in der späten Alexander- und frühen Diadochenzeit. Es fragt sich auch grundsätzlich, ob tatsächlich diese drei Konzepte in dem Verständnis miteinander inkompatibel waren, das führende Staatsmänner der griechischen Polisstaaten zwischen 404 und 338 vertraten.
Meiner Meinung nach beschreibt Buckler den schon für Zeitgenossen staunenswerten Machtaufstieg Philipps II. und Makedoniens vielleicht zu positiv. Seine zeitgenössischen Kritiker und Gegner werden dagegen meist als hoffnungslos zurückgebliebene Verteidiger überlebter Polis-Ideale und politisch kurzsichtige Intriganten, stellenweise sogar als korrupte Demagogen und Feiglinge diskreditiert. Von Anfang an sei zum Beispiel der Makedonenkönig Opfer athenischer Intrigen, aggressiver, unfreundlicher Akte sowie krankhaften Misstrauens geworden. Diese Auffassungen werden nicht alle Leser teilen. Zu Recht hebt Buckler dagegen hervor, dass viele kleine und schwächere Poleis den Aufstieg Makedoniens zur Hegemonialmacht viel positiver beurteilt haben werden als die großen traditionsreichen Poleis Sparta, Athen und Theben. Vor allem diese trauerten ja ihrer alten hegemonialen Machtposition nach. Mit Philipp trat nun ein neuartiger, aggressiver und dynamisch expandierender Mitspieler in das Mächtespiel des ägäischen Griechenland ein. Er verfügte über ungleich größere Ressourcen als die damaligen Poleis, Symmachien oder auch Koina. Dennoch fühlten sich führende Politiker insbesondere in Sparta, Athen und Theben einer Politik verpflichtet, die im Einklang mit der ruhmvollen Geschichte ihrer Poleis stand und ihre Selbstachtung bewahrte. Die große verpflichtende Tradition erwies sich unter den radikal gewandelten politisch-militärischen Rahmenbedingungen des 4. Jahrhunderts als ein schwieriges Erbe. Übertrieben scharfe Kritik übt Buckler vielleicht auch an Spartas Politik zwischen 404 und 371, vor allem an den politischen Methoden und Zielen sowie den militärischen Qualitäten des Königs Agesilaos. Buckler legt andererseits überzeugend die strukturellen Schwächen im spartanischen Kosmos offen, die den Versuch Spartas vereitelten, eine dauerhafte Hegemonialstellung im ägäischen Raum nach 404 aufzubauen.
20 Schwarz-Weiß-Fotos und 11 Karten von bedeutenden Schlachtfeldern, Orten und Denkmälern der griechischen Geschichte des 4. Jahrhunderts sind beigegeben. Nicht alle Abbildungen sind gleichermaßen aussagekräftig. Man hätte sich mit Blick auf die umstrittene Chronologie wichtiger Ereignisse eine Zeittafel und ferner einen ausführlicheren Index gewünscht. Die für ein umfangreiches Handbuch auffällig schlank ausgewählte Bibliografie (531-537) räumt aus der jüngeren deutschsprachigen Forschung nur wenigen Titeln einen prominenten Platz ein, andere wertvolle Beiträge vermisst man. Buckler streut einige wenig glückliche Vergleiche von Personen und Situationen des 4. Jahrhunderts mit solchen des 20. Jahrhunderts ein, zum Beispiel wenn er das Auftreten und Verhalten des Iason von Pherai vor den Pythischen Spielen 370 mit demjenigen Hitlers bei der Olympiade 1936 in Berlin vergleicht (295).
Der Preis des Buches (179,00 €) ist vom Verlag leider recht hoch angesetzt worden. Vermutlich werden daher insbesondere altertumswissenschaftliche Fachvertreter das Handbuch gerne als eine gelungene Synthese der bisherigen Studien Bucklers über diese Epoche und ihre führenden Personen zurate ziehen.
Johannes Engels