Sabine Anselm: Struktur und Transparenz. Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Feldherrnviten des Cornelius Nepos (= Altertumswissenschaftliches Kolloquium; Bd. 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 204 S., ISBN 978-3-515-08478-9, EUR 38,00
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Bereits 1985 war Joseph Geiger [1] nachdrücklich für eine Neueinschätzung der Bedeutung der biografischen Werke des Cornelius Nepos eingetreten. Er hatte mit seinen pointierten Thesen zur Entstehung der politischen Biografie als antiker Untergattung eine rege Diskussion ausgelöst, die für die gesamte Gattungsgeschichte der antiken Biografie fruchtbar wurde. [2] Nun liegt mit dem zu besprechenden Werk von Sabine Anselm eine weitere Monografie vor, die eine späte Schrift des Nepos behandelt.
Das Ziel der Autorin ist es, eine moderne philologisch-literaturwissenschaftliche Analyse der so genannten Feldherrnviten des Cornelius Nepos vorzulegen. Zugleich will sie ausdrücklich zu einer Aufwertung der lange Zeit vorherrschenden Geringschätzung der literarischen Qualitäten des Nepos als wichtigem frühen Vertreter der antiken lateinischen Biografie und einem Autor des genus scripturae leve beitragen (vergleiche die Kapitel 1 "Einführung" und Kapitel 2 "Methodologie und Fragestellung", 9-66, insbesondere 32). Die Textdimensionen und kontextuellen Strukturen der Viten verdeutlicht Anselm mithilfe eines Schemas. Zugleich präzisiert sie bei dessen Erläuterung (22-24) auch ihre literaturwissenschaftlich-hermeneutische Position. Zur Makrostruktur des Feldherrnbuches sind bekanntlich seit langem weit voneinander abweichende, teils spekulative Vorschläge geäußert worden, die Anselm (62-63 mit Tabelle 2) um einen eigenen ergänzt. Nepos habe die Anordnung seiner Viten ausgesprochen kunstvoll festgelegt. Sie skizziere in verkürzter Form den Verlauf der griechischen Geschichte. Denn es folgten auf eine erste Dekade der Viten zur Glanzzeit Athens eine Mitteltriade zum Ende der athenischen Hegemonie und eine zweite Dekade mit Viten aus der Epoche des Niederganges der (für römische Leser) fremden Welt. Dabei seien die erste und die zweite Dekade wiederum in eine Heptade mit folgender Triade untergliedert. Ob Nepos selbst tatsächlich dieses raffinierte Zahlenspiel ausheckte, welche antiken Leser diese Feinheiten dann verstanden haben oder ob gar erst moderne philologische Scharfsinnigkeit sie (er-)fanden, bleibt weiter zu diskutieren.
Anselm geht in ihren einleitenden Kapiteln auf das Leben und die bezeugten Werke des Nepos kurz ein. Hierbei haben mich die Zeugnisse (30-31) für angeblich bedeutende Bezüge zwischen den Werken des Nepos und Sallusts nicht völlig überzeugt. Manches bleibt doch wohl der gemeinsamen moralisch-pädagogischen Absicht geschuldet. Entscheidend wichtig sind die offenkundigen Beziehungen des Nepos zu den Personen und Werken Ciceros und des Atticus. Man könnte auch mit Gewinn über Ähnlichkeiten nachdenken, die die Vitae des Nepos und die 'Facta et dicta memorabilia' des Valerius Maximus zeigen. Trotz des zeitlichen Abstandes verbindet beide Autoren die Wahl der kleinen Gattungen, welche eng mit der Historiografie verwandt sind, die soziale Standeszugehörigkeit, eine Vorliebe für sentenzenreiche Prosa und die explizite moralisch-pädagogische Absicht.
Im Hauptteil der Monografie Anselms (67-160) folgen detaillierte strukturelle Interpretationen des Feldherrnbuches. In den Viten soll in peripatetisch-hellenistischer Tradition aus exemplarischen Taten (praxeis) die Charakterzüge (das ethos) der Feldherrn deutlich werden. Die Analyse der 23 Viten wird jeweils mit einer übersichtlichen Tabelle eingeleitet. Hier ordnet Anselm den Kapiteln der Vita die kommentierende Ebene, die Handlungsebene und eine Datenleiste zur chronologischen Einordnung der behandelten Ereignisse zu. Nepos verbindet in seinen Feldherrnviten deskriptive, narrative und pädagogische Interessen (vergleiche 174 und öfter). Die Autorin bemerkt zu Recht (172) eine auffällige Nähe des 'Liber de excellentibus ducibus externarum gentium' zur Fürstenspiegelliteratur, die ja bereits bedeutende antike Wurzeln hat, wenn auch ihre Glanzzeit in späteren Epochen liegen dürfte. [3] Der römische Tugendkatalog, den Nepos für einen guten Feldherrn fordert, berührt sich erwartungsgemäß eng mit den entsprechenden Anforderungen Ciceros. Die Auswahl des Stoffes und die thematischen Akzente, die Nepos in einzelnen Viten setzt, wurden in erheblichem Maße davon bestimmt, ob sich Parallelen zu den Themen der politischen Auseinandersetzung, zu Ereignissen und bemerkenswerten Schicksalen seiner Lebenszeit ziehen ließen. Als intendierten idealen Leser stellt Anselm zu Recht Tiberius Pomponius Atticus heraus (175-182). Er sei für Nepos "die Symbolfigur des überparteilichen Politikers in einer Zeit des Niedergangs und ein Repräsentant zentraler Wertvorstellungen" (176) gewesen. In ihrem Bemühen, zu einer Aufwertung des Nepos beizutragen, schreibt Anselm ihm sogar - unter den für die damalige Zeit gebotenen Einschränkungen - eine eigene charakteristische Geschichtstheorie zu: "Ihm ist Geschichte kein gestaltloser und kontingenter Prozeß, sondern in ihr lassen sich anhand der Existenz bestimmter Wertmuster wiederkehrende - mit Max Weber: idealtypische - Konstellationen beschreiben, die zugleich Grundlage von kollektiver Identitätsbildung, Gegenwartsdeutung sowie Wertevermittlung werden können" (161). Hierin liege auch zum großen Teil die fortdauernde Aktualität der Werke des Nepos. Die Gründe, die für eine Neubewertung und höhere Schätzung seiner Viten sprechen, fasst die Verfasserin abschließend nochmals thesenartig zusammen (183-185). Die 25 Tabellen in der Monografie tragen viel zur Übersichtlichkeit der literaturwissenschaftlichen Analysen bei. Man findet auch ein knappes Personenregister zu modernen Gelehrten, deren Positionen im Buch diskutiert werden, leider aber kein Quellenregister.
Für Anselm ist es abschließend natürlich klar, dass man als heutiger Leser weiterhin Zeit für die Lektüre der Werke des Nepos aufwenden sollte. Selbst wenn man ihr in dessen Aufwertung vielleicht nicht ganz so weit folgen möchte, bleiben die Viten des Nepos auch nach Meinung des Rezensenten lesenswert. Man darf diese Monografie vielleicht im Sinne der Verfasserin auch als ein Plädoyer dafür auffassen, Texte aus Werken 'Kleiner Gattungen' in Zukunft noch stärker als bisher im Schulunterricht in der Anfangslektüre als eine erwägenswerte Alternative zur derzeit vielerorts noch vorherrschenden (zu) ausführlichen Cäsarlektüre auszuprobieren.
Anmerkungen:
[1] Joseph Geiger: Cornelius Nepos and the Ancient Political Biography (= Historia Einzelschriften; Bd. 47), Stuttgart 1985.
[2] Vgl. die ausführliche Rezension von Ulrich Schindel, in: Gnomon 65 (1993), 19-30; siehe als vorläufige Bilanzen der Diskussion Christopher Tuplin: Nepos and the Origins of Political Biography, in: Carl Deroux (Hg.): Studies in Latin Literature and Roman History X (= Collection Latomus; Bd. 254), Brüssel 2000, 124-161, und Frances Titchener: Cornelius Nepos and the Biographical Tradition, in: Greece & Rome 50 (2003), 85-99.
[3] Vgl. zusammenfassend Michael Philipp / Theo Stammen: Art. Fürstenspiegel, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 1996, 495-507.
Johannes Engels