Albert Lisse: Handlungsspielräume deutscher Verwaltungsstellen bei den Konfiskationen in der SBZ 1945-1949. Zum Verhältnis zwischen deutschen Verwaltungsstellen und der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 99), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 244 S., 7 s/w-Abb., 8 Tab., 8 Zeichnungen, ISBN 978-3-515-08449-9, EUR 40,00
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Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der Aktionsradius deutscher Verwaltungsstellen bei der Durchführung von Bodenreform und Industrieenteignungen "als Ausdruck der Machtergreifung" (89) oder "Vehikel zur Machtbefestigung der KPD/ SED" (51) unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungsherrschaft in Deutschland. Es soll belegt werden, dass "die deutschen Handlungsspielräume bei den Konfiskationen" beziehungsweise Enteignungen viel größer waren "als bisher von Rechtssprechung, Politik und Schrifttum angenommen". (28) Gleichzeitig will die Studie "die bislang nur sehr schwer nachzuweisende direkte sowjetische Einflussnahme und den spezifischen Anteil der SMAD bei der wirtschaftspolitischen Umgestaltung und den Konfiskationen in der SBZ im Spannungsfeld von Alliierter Kontrollkommission [gemeint ist der Kontrollrat - Ch.K.], SMAD und deutschen Verwaltungsstellen" präziser herausarbeiten (23). Den "Wert und das Neue der vorliegenden Untersuchung" sieht der Autor in der "Zusammenstellung der aufgefundenen Dokumente verschiedener [deutscher] Archive aus den Jahren 1945 bis 1949, deren Zusammenschau und Zugänglichmachung" (23).
Zu Beginn wird über Verwaltungsaufbau, Befehlssystem und Befehlsinhalte (Industriebeschlagnahme) der SMAD informiert. Als erste Formen deutscher Handlungsspielräume stellt der Autor hier die Möglichkeit zur relativ freien Befehlsauslegung durch deutsche Verwaltungsstellen oder ihre Mitbeteiligung bereits bei der Vorbereitung von Befehlstexten vor. Insbesondere ab 1947 seien Vorschläge deutscher Parteien und Massenorganisationen und auch der Zentralverwaltungen in die SMAD-Befehle eingegangen. Vor dem Hintergrund der (bis August 1954) gültigen SMAD-Befehle werden deutsche rechtliche und administrative Kompetenzen vorgestellt. Dies geschieht zum Teil mit Rekurs auf sowjetische ideologische Einflussnahme: Die Deutschen Zentralverwaltungen (Gründung durch SMAD-Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945) waren als "verlängerter Arm der SMAD" (44) tätig. Den Ländern und Provinzen wurde zwar Gesetzgebungskompetenz verliehen (SMAD-Befehl Nr. 110 vom 22. Oktober 1945), jedoch wären die Länder besonders ab 1947 der Durchsetzungskonkurrenz von SED und Zentralverwaltungen ausgesetzt gewesen. Das explizite Weisungsrecht der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) gegenüber den Landes- und Provinzialregierungen ab April 1948 wertet Lisse als Ausdruck vornehmlich sowjetischer Zentralisierungsbestrebungen und als Teilschritt zur Länderauflösung 1952. Neben parteipolitischer Instrumentalisierung der Zentralen Deutschen Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme (März 1946 bis April 1948) oder nachfolgend des "Ausschusses zum Schutz des Volkseigentums" wird bei der Zentralen Kontrollkommission (ab Mai 1948 bei der DWK) auch deren Kompetenz zum Missbrauch des Strafrechts für Enteignungen hervorgehoben.
Für "Boden- und Industriereform" gleichermaßen konstatiert der Autor, dass sie "durchweg auf Verordnungen oder Gesetzen der Provinzen/Länder" beruhten (157). Insbesondere am Beispiel der Bodenreform werden Gesetzgebungsakte der SBZ-Länder und die Möglichkeit sowjetischer Mitwirkung diskutiert. Im ideologischen Kontext stehen des weiteren sowjetische und/oder Einflussnahme von KPD/SED in Gestalt parteigesteuerter "Volksentscheide", die SED-Propagandalüge zur angeblichen Verschonung der Großbauern, aber auch Gesetzesmissbrauch durch Korruption und Denunziation. Bei den Industrieenteignungen hebt der Autor die zu Zwecken des Eigentumsübergangs unrechtmäßige Ausnutzung von SMAD-Sequestrations- beziehungsweise Konfiskationsbefehlen hervor. Entgegen dem tatsächlichen Inhalt des SMAD-Befehls Nr. 124 vom 30. Oktober 1945 und nachfolgender Befehle zu Sequestrierung und Konfiskation sei es zur willkürlichen und quantitativ übersteigerten Aufstellung von zu enteignenden Unternehmen gekommen. Als Korrekturversuch seitens der SMAD wird der Befehl Nummer 154/181 vom 21. Mai 1946 angeführt. Der DWK wird neben der vorsätzlichen Ausweitung der Sequesterverfahren auch der vergebliche Versuch bescheinigt, den Akt der definitiven Enteignung durch sowjetische Befehlsgebung rechtlich abzusichern. Zum Nachweis, dass der Eigentumsübergang letztendlich auf Grundlage deutscher Rechtsvorschriften stattfand, wird SMAD-Befehl Nummer 64 vom 17. April 1948 herangezogen. Dieser ordne zwar die Beendigung der Sequesterverfahren an, bestätige dabei aber die Beschlüsse der Landesregierungen oder den Volksentscheid in Sachsen als Grundlagen der Enteignung.
Die Grenzziehung zwischen juristischen Kompetenzen der sowjetischen und der deutschen Seite läuft in den abschließenden Kapiteln auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Rechtslage in Entschädigungsfällen nach 1990 hinaus. Infolge der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 15. Juni 1990 würden Enteignungen vor Gründung der DDR unter Berufung auf "besatzungsrechtliche oder besatzungshoheitliche" Normen von Rückgabeansprüchen nicht berührt. Dabei würden die deutschen Verordnungen und Gesetze außer Acht gelassen. Die Enteignungen hingegen als Ausdruck politischer Verfolgung ließen eine moralische Rehabilitation zu, die ebenfalls die Möglichkeit der Rückerstattung einschließen müsse.
Eine zweite Argumentationslinie zur Verantwortung insbesondere der KPD/SED für den wirtschaftspolitischen Systemwandel - ergänzt auch durch (nicht weiter ausgeführten) Verweis auf die Gründung der Sowjetischen Aktiengesellschaften als Zeichen "massive[r] Umwälzung der privatwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft der SBZ" (33) - endet ebenfalls 1990: "Die Abschaffung des Privateigentums und die damit verbundene Eliminierung des Systems von Märkten für die Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital waren die entscheidenden Ursachen des Zusammenbruchs der DDR-Planwirtschaft 1989." (93, 155) Denn das "letztlich anonyme Eigentum legte Anreize und Triebkräfte nicht frei - wie der Zusammenbruch des realen Sozialismus beweist" (158).
Die vorgestellte Abhandlung gibt einen Einblick in generelle und länderspezifische Grundlagen und Praxis der Enteignungen und in juristische Argumentationsansätze nach 1990. Zur Stützung der These des Autors findet sich eine Vielzahl an Forschungsargumenten. Die Dokumentensammlung im Anhang beleuchtet neben deutschrechtlichen oder administrativen Akten vor allem die Schritte der SMAD. Für die umfangreich aufgeführten SMAD-Befehle wäre allerdings die Angabe des Fundortes, speziell auch mit Blick auf die einzelnen Verwaltungsstellen, notwendig und für die weitere Forschung hilfreich gewesen. Der Autor selbst verweist auf mögliche russische Befehlsvarianten (40), überdies war eine einheitliche Übersetzung für deutsche Verwaltungsstellen nicht gewährleistet. In diesem Zusammenhang sei noch auf die sinnwidrige Darstellung des SMAD-Befehls Nr. 124 vom 30. Oktober 1945 verwiesen: Laut Autor geht nach Artikel 2 "herrenloses Gut" an deutsche Provinzialverwaltungen über (72), statt unter die Verwaltung der SMAD, wie es in der Fassung "Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung", Berlin 1946, 21 heißt. Obwohl Begriffe wie "staatliches Eigentum" (89) oder "Staatseigentum" (17) nicht definiert werden, und der Autor eine Erklärung darüber schuldig bleibt, weshalb er zum Beispiel von der Bodenreform in Anführungszeichen spricht, bietet die Abhandlung nicht zuletzt einen Hinweis auf die noch immer aktuelle Relevanz des Themas.
Christiane Künzel