Ulrich Pfisterer / Max Seidel (Hgg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz. Vierte Folge; Bd. 3), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2003, 456 S., ISBN 978-3-422-06364-8, EUR 98,00
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Der mit großer Sorgfalt edierte und prominent besetzte Band enthält die erweiterten Akten einer im Jahr 2000 von Ulrich Pfisterer und Max Seidel organisierten Tagung am Kunsthistorischen Institut in Florenz.
Die Beiträge kreisen in sehr unterschiedlicher Weise um das, was die Herausgeber unter dem Begriff des "visuellen Topos" zur Diskussion stellen. Der Gedanke, dass eine aus der antiken Rhetorik stammender Vorstellung die Gattungsgrenze zur bildenden Kunst der Renaissance übersprungen haben könnte, ist in der Tat interessant - und nahe liegend. Ist nicht die ganze Renaissance-Kultur, und somit auch die Bildende Kunst, aus der Beschäftigung mit antiker Philologie entstanden, der Heim- und Brutstätte des topischen Denkens?
Zunächst, oder vor allem - denn das Format ist beschränkt - ist hier zu überlegen, was ein visueller Topos denn eigentlich sein könnte. Der diesem Neuankömmling in der Kunstgeschichte noch zur Verfügung stehende Raum wird von den hier bereits ansässigen Begriffen des Motivs, der Metapher, der Allegorie, der Pathosformel, der symbolische Form, der Chiffre, des Typus oder des Stils (als "genus dicendi" bereits ein Import aus der Rhetorik) ja schon empfindlich eingeengt. Von allen muss sich der Topos merklich unterscheiden, will er sich als ein im Fach neuer, wissenschaftlicher Terminus behaupten. Zwar heißt es, dass Bilder sprechen oder zum Sprechen gebracht werden könnten. Doch gibt es wirklich eine visuelle Rhetorik, die in stilistischer Regelhaftigkeit der klassischen Redekunst vergleichbar wäre? Eine visuelle Rhetorik - und somit visuelle Topoi - müssten außerhalb des ikonographisch Darstellbaren agieren und einen zur eigentlichen Bildaussage parallel verlaufenden und dennoch bildlich sich mitteilenden - aber eben nicht narrativen - Subtext bilden.
Das klingt zugegeben etwas kompliziert. Vielleicht sollte man sich ja erst überlegen, was unter einem herkömmlichen, also rhetorischen Topos zu verstehen ist. Das ist aber gar nicht so einfach, wie man zunächst hofft. So beginnt der einleitende Beitrag des Philosophen Wilhelm Schmidt-Biggemann "Topische Modelle in Theorie und Praxis der Renaissance" zwar mit der Frage "Was ist ein Topos?", doch eigentlich meint man nach der Lektüre, vorher mehr gewusst zu haben. Natürlich ist man sofort bereit, dies der überlegenen Terminologie der Nachbardisziplin zuzuschreiben: "Topik arbeitet mit einer Methode der Präsentation durch Intensivierung der Proportion. Die Intensivierung einer Argumentation besteht darin herauszubekommen, was in einem Topos an Semantik steckt; es geht darum, den Topos sozusagen zu entfalten" (11). Man versteht Schmidt-Biggemann etwas besser, wenn man zuvor den kenntnisreichen und klar strukturierten Beitrag "Die Bildwissenschaft ist mühelos" von Ulrich Pfisterer gelesen hat. Nun ergibt sich folgendes, aus weiteren Quellen ergänztes Bild:
Seit der Antike gilt die Topik als eine das Ingenium ergänzende, erlernbare Findungs- und Kompositionslehre für Rhetorik und Dichtung. Was Aristoteles als "topoi koinoi" (Gemein-Plätze) bezeichnet, nennt Quintilian nur noch "loci": "Locos appello non, ut vulgo nunc intelleguntur, in luxuriem et adulterium et similia, sed sedes argumentorum, in quibus latent, ex quibus sunt petenda". [1] Quintilian, der sich Seitenhiebe auf seine Zeitgenossen eben nie verkneifen konnte, greift damit auf Cicero zurück, der eine regelrechte "Topografie" dieser von ihm wörtlich nach Aristoteles "loci communes" geheißenen Fundorte zusammenstellt.
Der topisch geschulte Redner wusste, unter welchen Kategorien sich Argumente für sein Anliegen finden und nach welchen Gesichtspunkten sich diese wirksam deklinieren ließen. Aufgabe des Redners ist es dabei, das Publikum bei seiner kulturellen und zivilisatorischen Vorstellungen zu packen. Cicero, der wie niemand sonst wusste, was seine Römer im innersten bewegte, gelang es auf diese Weise immer wieder - notfalls auch unter Anrufung der Götter und Vorväter - die eigentlich schwächere Sache zur Stärkeren zu machen.
Der Topos appelliert eben nicht so sehr an die Ratio des Menschen, sondern an das, was man heute als "kulturelle Identität" bezeichnen würde: der halb unterbewusste Vorrat kollektiver Bilder, Überzeugungen, Mythen, Ängste und Wünsche. Dabei muss sich der Topos nie rechtfertigen oder erklären. Indem er sich eingefahrener Denk- und Ausdrucksschemata bedient, setzt er ganz bewusst auf die Autorität des Vorbildhaften, Hergebrachten, Immer-schon-so-gewesenen. In unserem originellen, kreativen und skeptischen Europa sind solche Parameter freilich nur noch begrenzt mehrheitsfähig. Ein "Topos" ist hier eher der Gemeinplatz als Unort ("dystopos"). Aus der "sedis argumentorum" wurde die Heimstatt von Klischee, Phrase und Floskel. Diese Phobie vor Form, Formel, Gesetz und Sitte sind die allerletzten, zählebigen Spätfolgen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, deren Werte und Vorstellungen ja ansonsten als gänzlich überwunden gelten dürfen. Die Topik als quasi mechanisch das Alte aufbereitende Musenkrücke ließ sich mit dem Anspruch Neues, Unerhörtes, Geniales zu schaffen, nur schlecht vereinen.
Mit diesem Hunger nach immer nur Neuem, Voraussetzungslosen verkümmerte freilich auch die Fähigkeit der Rezipienten, die topischen Figuren vergangener Jahrhunderte zu verstehen. Ihre Wiedergeburt erlebte die abgestorbene Topik denn auch in gewandelter Gestalt, nämlich als Präparat in der philologischen Forschung. So versuchte Ernst Robert Curtius in den dreißiger Jahren, sein Fachgebiet, die Literaturwissenschaft, mithilfe der von ihm initiierten Toposforschung gegenüber der verachteten, aber seinerzeit leider erfolgreicheren Kunstgeschichte neu in Stellung zu bringen.
Um ein Nachrüsten der Kunstgeschichte zu verhindern, sprach Curtius der Bildenden Kunst als weicher Disziplin von vornherein die Möglichkeit ab, Topoi im klassischen Sinne auszubilden. Dass er die neue methodische Wunderwaffe den Anregungen durch Aby Warburgs "Pathosformeln" zu verdanken hatte, war für Curtius insofern kein Widerspruch, als er Warburg - und mit Einschränkungen auch Panofsky - kurzerhand von dem Vorwurf, Kunsthistoriker zu sein, einfach freisprach (Pfisterer 21-24). Nach Curtius also dürfte es visuelle Topoi gar nicht geben, da die Kunst lediglich in der Lage sei, durch "Pathosformeln" den "Anblick emotionaler Zustände und Stimmungen in den sichtbaren Formen von angehaltenen Körperbewegungen und Ausdruck" zu transportieren (Zitat Curtius; Pfisterer 26).
Hier irrt Curtius. Der vorliegende Band beweist in einer Reihe von Beispielen - wenn auch nicht durch alle Beiträge - dass es in der bildenden Kunst sehr wohl den Ausdruck allgemeiner Ideen gibt, die von ikonographischen Kategorien keineswegs präzise abgedeckt werden können. Denn Curtius lässt außer Acht, dass es sowohl um das quod als um das quo modo einer Darstellung gehen kann. Wenn zum Beispiel Michelangelo durch das Nichtvollenden einer Statue bewusst auf die Idee des "non finto" hätte anspielen wollen, dann wäre dies ein ebenso lupenreiner visueller Topos wie es der gebaute Andito des Palazzo Farnese als ein über das Antikenzitat hinausgehender, aber unspezifischer Hinweis auf das antike Atrium und die Idee der antiken domus de facto ist. Überhaupt ließe sich der Begriff des visuellen Topos auf die Architektur der Renaissance vielleicht sogar noch erfolgreicher anwenden als in den bildenden Künsten.
Doch auch hier finden sich genügend Nischen, in denen Topoi siedeln können, wie zum Beispiel die Ästhetik. Dass die Farbe und der Farbauftrag zu Trägern einer eigenständigen, auf topische Vorstellungen zurückgreifende Aussage werden können, wird in den Beiträgen über die Ästhetik des "Lebendigen Bildes" beziehungsweise des "sichtbaren Pinselstriches" von Frank Fehrenbach sowie Valeska von Rosen durchaus glaubhaft gemacht. Und auch wenn der selbst schon in bestem Sinne topische Beitrag Rudolf Preimesbergers "Rilievo und Michelangelo" die zugegeben engen thematischen Fesseln mit bewundernswerter Gewandtheit abstreift, so ist ihm für Michelangelo mit den Kategorien der "difficoltà" oder des Donatello-Imitats der Nachweis echter, visueller Topoi gelungen (308-311).
Es sind aber nicht nur diese zufällig herausgegriffenen Einzelbeiträge, welche die Qualitäten des Bandes ausmachen, dessen Autoren das vorgegebene Thema im Sinne des Wortes als einen Ausgangspunkt begriffen haben, von dem aus unzählige Wege in weiträumige Peripherien führen. Doch gerade auf die richtige Wahl dieses Ansatzes kommt es ja bekanntlich an. Mit ihrer Frage nach visuellen Topoi in der bildenden Kunst der Renaissance haben die Initiatoren von Buch und Tagung die diskursive Befindlichkeit der Bildwissenschaften instinktsicher erfasst und sie zu einer produktiven und vielstimmigen Variationen über ein Thema angeregt. Der "geneigte Leser", dieses zutiefst topische Wesen, wird in diesem Buch ganz gewiss mehr als das im Titel Versprochene finden.
Anmerkung:
[1] M. Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria, V.20.
Golo Maurer