Lucy Freeman Sandler (Bearb.): Der Ramsey-Psalter. Codex 58/1 der Stiftsbibliothek St. Paul im Lavanttal und Ms M.302 der Pierpont Morgan Library, New York. Mit einem Kommentar von Lucy Freeman Sandler (= Glanzlichter der Buchkunst; Bd. 12), Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 2003, 87 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-201-01805-0, EUR 89,00
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Mit dem um beziehungsweise bald nach 1300 entstandenen Ramsey-Psalter, einer in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen und vergleichsweise frühen Handschrift aus dem Bereich des "East-Anglian"-Stil, erreicht die Reihe "Glanzlichter der Buchkunst" der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt Graz nach ihrem Start 1991 nun ihren zwölften Band. In dieser Reihe werden Werke der Buchmalerei des Mittelalters, die zuvor in der Grazer Reihe "Codices selecti" nach allen Regeln der Kunst faksimiliert worden waren, vergleichsweise preisgünstig angeboten. Hierbei sollen die Handschriften zwar in verkleinertem Format, aber wiederum vollständig und durchgehend farbig wiedergegeben werden. Zudem sind sie mit einem Auszug aus den Kommentarbänden in einem Band vereint. Im Falle des hier besprochenen Buches war es folgendes Faksimile: "Der Ramsey-Psalter: vollständige Faksimile Ausgabe im Originalformat von Codex 58/1 der Stiftsbibliothek St. Paul im Lavanttal und Ms M.302 der Pierpont Morgan Library in New York, Faksimile und Kommentarband mit dem Kommentar von Lucy Freeman Sandler (= Codices selecti; 103 und 103*), Faksimile mit Interimskommentar Graz 1996, Kommentar Graz 1999".
Der Ramsey-Psalter trägt den Namen des Benediktinerklosters Ramsey in den ostenglischen Fenlands nördlich von Cambridge. Entstanden ist er circa 1300-1310 in einem Werkstattverbund von berufsmäßigen Laienmalern der Region für dieses Kloster, genauer gesagt wohl für dessen Abt John of Sawtry, der von 1288-1316 amtierte. Hergestellt wurde er vermutlich auf Veranlassung des für die Klosterwirtschaft Ramseys verantwortlichen Cellerarius William of Grafham. Der 1303 letztmalig als lebend belegte Grafham ist zumindest am Ende des Kalenders unten als Büste fassbar. Diese dürfte posthum hier eingefügt sein, weist sie doch die ehrende Beischrift GRAFHAM HONORETUR (und nicht "Grafham honeretur", wie auf Seite 3 angegeben) auf.
Besonderes Interesse verdienen nicht nur die ungewöhnlichen Miniaturen zur Gründungsgeschichte beziehungsweise den Stiftern und den hl. Patronen des Klosters (Maria, Benedikt, die hl. Jungfrauen, dazu Nikolaus, Thomas von Canterbury und für die Frühgeschichte des Ortes Oswald, Dunstan und der erste Abt Ednoth). Auch die historisierten Initialen der Psalmen weichen teilweise sehr von dem damals Üblichen ab. Hierbei schließen sich einige wohl an die englische Rezeption der Miniaturen des karolingischen Utrechtpsalters an.
Nicht nur weil sie sich gerade mit diesen beiden Aspekten der Handschrift bereits in Aufsätzen beschäftigt hat, dürfte kaum jemand geeigneter gewesen sein für diesen Kommentar als Lucy Freeman Sandler. Zudem hatte sie sich schon 1974 in ihrem Buch "The Peterborough Psalter in Brussels and Other Fenland Manuscripts" und dann 1986 in ihrem Band "Gothic Manuscripts 1285-1385" in der Reihe "A Survey of Manuscripts illuminated in the British Isles" mit diesem Codex, seiner Gruppe und dem Umfeld beschäftigt. Ihr Kommentar lässt dementsprechend keine Wünsche offen. Er behandelt, vielfach mit neuen Erkenntnissen, die Geschichte und die Zusammensetzung der Handschrift, ihre Texte und Miniaturen sowie den Platz des Psalters in der Geschichte von Ramsey sowie innerhalb der englischen Buchmalerei. Ihr Kommentar wird grundlegend für die weitere Beschäftigung mit der in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen Handschrift sein.
Der Codex hatte eine bewegte Geschichte, die Sandler - so weit möglich - anhand seiner heutigen Zusammensetzung und diversen Nachträgen sowie Ergänzungen rekonstruiert. Die Handschrift ging durch die Hände von Laien beziehungsweise Weltgeistlichen, bis sie um die Mitte des 16. Jahrhunderts wieder im monastischen Besitz war, und zwar in der bekannten Benediktinerabtei St. Blasien in der Diözese Konstanz. Mit den während der Säkularisation vertriebenen Mönchen dieses Klosters kam sie nach St. Paul im Lavanttal. Dort wird sie heute als Codex 58/1 der Stiftsbibliothek verwahrt. Im 19. Jahrhundert wurden ihr die heute in New York (Pierpont Morgan Library, Ms. M.302, 5 Blätter) liegenden Miniaturen entnommen. Sie konnten beim Faksimile an ihre durch alte Foliierung bezeugte Stelle vor dem Kalender eingefügt werden. Zumindest "virtuell" ist der Codex somit im Faksimile wieder vollständig.
Zusammen mit dem Miniaturenzyklus besitzt der Codex die üblichen Abschnitte eines Prachtpsalters, das heißt Kalendarium, Miniaturenzyklus, Psalmen mit historisierten Initialen zu den Psalmen der Zehnteilung (Ps. 1, 26, 38 (verloren), 51, 52, 68, 80, 97, 101, 109), die Cantica und die Litanei. Letztere ist allerdings frühneuzeitlich und ersetzt die ursprüngliche. Das Kalendarium bietet den Ramseyer Festkalender, der mit einzelnen Festgraden versehen ist. Der Miniaturenzyklus umfasst neben Darstellungen zur Genesis sowie zum Leben und Wirken Jesu an seinem Ende die besagten Miniaturen zur Gründung und Stiftung Ramseys sowie zu den heiligen Patronen des Klosters. Die Miniaturen wurden vielleicht von dem Buchbinder, der in St. Blasien den heute noch vorhandenen frühneuzeitlichen Einband schuf, an ihre Stelle vor dem Kalender versetzt. Ursprünglich saßen sie aber wohl wie üblich für Prachtpsalterien zwischen Kalender und Psalmen. Hierfür kann Sandler neben kodikologischen auch inhaltliche Argumente beibringen. Wesentlich dürfte es sein, dass sich die Miniaturen dort thematisch mit der im Codex verbliebenen Miniatur (fol. 17r) mit der rechts neben Christus im Kreise der Heiligen thronenden Himmelskönigin Maria als Patronin des Klosters oben und der Reinigung des künftigen Bauplatzes des Klosters von Dämonen unten ergänzen würden. Dieser für das Verständnis der Handschrift wichtige Aspekt blieb leider nur dem Kommentar des Vollfaksimiles (176ff.) vorbehalten.
Die Betonung des Evangelisten Johannes sowie des Täufers in dieser Miniatur, in der sie rechts und links neben Maria stehen, dürfte auf ihre Bedeutung als Namenspatrone des Besitzers des Codex, Abt John of Sawtry, zurückgehen. Gerade in dieser Miniatur zeigt sich daher deutlich die Zwitterstellung der Handschrift. Sie ist auf der einen Seite ein Gegenstand der privaten Devotion des Abtes und wurde erst später in Deutschland durch Nachträge für das Chorgebet eingerichtet. Auf der anderen Seite dient sie der Pflege der Memoria, derjenigen der Stifter des Klosters ebenso wie derjenigen des "Stifters" der Handschrift Grafham und ihres Besitzers, sowie der Repräsentation von Abt und Kloster. Auch andere Psalterien derselben Handschriftengruppe entstanden für Benediktineräbte in den Fenlands. Dies gilt etwa für den ebenfalls durch seine Miniaturen, insbesondere seinen ausgedehnten typologischen Zyklus ausgezeichnete Peterborough-Psalter (Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, Ms. 9961-62). Er entstand für Geoffrey of Crowland, der von 1299-1321 mit Peterborough dem zweiten großen Kloster der Benediktiner in den Fenlands vorstand.
Da das eigentliche Faksimile und sein Kommentar so gelungen sind, fallen die Mängel der Ausgabe in der Reihe "Glanzlichter der Buchkunst" und damit prinzipielle Mängel dieser Reihe insgesamt umso mehr ins Gewicht. Dies betrifft weniger die Auswahl der Textblöcke aus dem eigentlichen Kommentarband und dem Interimskommentar, wenn auch Kürzungen wie der unterbliebene Hinweis auf den ursprünglichen Ort der New Yorker Miniaturen im Codex schmerzlich sind. Bei dieser Textauswahl lag der Schwerpunkt nahe liegender weise auf grundlegenden Informationen zur Geschichte der Handschrift, dem Psalter als Buchtypus und der Erläuterung der Miniaturen. Viel gravierender ist es aber, wenn der Anspruch auf ein vollständiges Faksimile, wenn auch in verkleinertem Format, erhoben, aber nicht eingelöst wird. Es ist kein Schönheitsfehler, wenn die Seiten einer mittelalterlichen Handschrift bei ihrer Reproduktion im Zuge des vereinheitlichenden Zuschnitts des Buchblocks beschnitten werden. Schon der Verlust von Fleuronnée-Endigungen und von Teilen der späteren Beischriften ist ein Ärgernis. Die vielfach verstümmelte Foliierung erschwert die Orientierung im Faksimile. Besonders gravierend ist der Verlust aber bei den langen, oft von den Initialen ausgehenden Randfüllern aus Balken und Blattwerk, die so charakteristisch für Handschriften des "East Anglia"-Stils sind. Er betrifft zudem auch die nicht selten rund um den Textblock verteilten figürlichen Elemente. Ein besonders gravierendes Beispiel sind die Musiker zu Psalm 80 (fol. 91r). Diejenigen am Außenrand wurden derart verstümmelt, dass die Argumentation von Sandler (74), in den beiden Trompetenspielern eine Missgeburt mit zwei Köpfen, aber nur drei Armen und zwei Füßen zu sehen, nicht mehr nachvollzogen werden kann, da der zweite Kopf dem vereinheitlichenden Buchschnitt zum Opfer fiel.
Nicht nur bei einem reich mit Marginaldekor versehenen Werk wie dem Ramsey-Psalter zeigt sich hier ein prinzipielles Problem solcher "Faksimiles". Bei dem unregelmäßigen Zuschnitt mittelalterlicher Pergamentblätter bliebe in einem Publikationsformat wie der Reihe "Glanzlichter" nur die Möglichkeit, die Pergamentseiten vor neutralem Hintergrund, dafür aber vollständig wiederzugeben. Dass man dies bisher nicht tat, mag damit zusammenhängen, dass die Freistellung einer Pergamentseite vor einem Hintergrund nach landläufigen Kriterien die Aura eines Faksimiles gefährdet. Zur Bewahrung dieser Aura aber paradoxerweise den Status des Faksimiles als vollständiger Wiedergabe einer Handschrift aufzugeben, ist keine Alternative.
Harald Wolter-von dem Knesebeck