Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hgg.): Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2004, 365 S., ISBN 978-3-593-37624-0, EUR 39,90
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Es ist nicht die Schuld der Leser, wenn sie bei dem Titel "Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften" Aufsätze über den Zusammenhang von Nation und Religion in mehrkonfessionellen Gesellschaften erwarten - im Unterschied zu monokonfessionellen Gesellschaften. Unter mehrkonfessionellen Gesellschaften versteht man solche, in denen mehrere Konfessionen lebten, wobei eine Konfession zahlenmäßig und / oder politisch und soziokulturell dominierte. Prominente Beispiele für das lange 19. Jahrhundert sind die Niederlande, Deutschland und die Schweiz, sämtliche mit protestantischer Hegemonie und starker katholischer Minderheit, sowie Irland mit katholischer Mehrheit und trotzdem protestantischer Hegemonie.
Dagegen ist in monokonfessionellen Gesellschaften der Anteil einer Konfession derart hoch, neunzig Prozent und mehr, dass von Multikonfessionalität keine Rede sein kann. Die romanischen Länder bildeten monokonfessionelle Gesellschaften: Portugal, Spanien, Italien, Frankreich, aber auch Belgien und später Polen. Die skandinavischen Länder, obwohl fast lupenrein protestantisch, gehörten damals schon nur bedingt in diese Kategorie, da lutherische, reformierte und andere protestantische Glaubensgemeinschaften eine konfessionelle Gemengelage ergaben. Echte europäische monokonfessionelle Gesellschaften waren katholisch, oft mit einem starken laizistischen Gegenpol.
Tatsächlich behandelt der Sammelband mehrkonfessionelle Nationen wie Deutschland, Großbritannien und die Schweiz, doch ebenso viele monokonfessionelle Gesellschaften und Räume: Italien, Frankreich, Böhmen und sogar Belgien, das zu über 99% katholisch war, ohne nennenswerte protestantische oder jüdische Minderheiten (wie etwa Polen oder Österreich sie aufwiesen), weshalb der Bearbeiter Belgiens, Johannes Koll, auch zutreffend die "Monokonfessionalität" hervorhebt. In ihrer Einleitung versäumen die Herausgeber zu erklären, warum sie mono- und mehrkonfessionelle Gesellschaften in einem "mehrkonfessionelle Gesellschaften" überschriebenen Band nebeneinander stellen, oder warum sie im Titel lediglich mehrkonfessionelle Gesellschaften ankündigen, obwohl sie genauso viele monokonfessionelle behandeln.
Man könnte vermuten, dass die "Spannweite der Mehrkonfessionalität" (17) derart ausgezogen wird, dass auch die Laizität, die etwa in Frankreich dem Katholizismus gegenüber stand, als Konfession bezeichnet wird. Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche deuten das an, wenn sie von den Symbolen und Ritualen der Laizität, von der "Strukturanalogie" mit den Konfessionen sprechen, zu denen ein Konkurrenzverhältnis bestand. Andererseits halten sie an dem religiösen Konfessionsbegriff fest, wenn sie von der laizistischen nationalen Bewegung in "monokonfessionell geprägten Gesellschaften" handeln. Beide Wege, ein enger und weiter Konfessionsbegriff, sind theoretisch gangbar, doch sollte man sich entscheiden. Portugal firmiert hier einmal unter monokonfessionellen (18), kurz darauf aber unter multikonfessionellen Gesellschaften (22). Was also bedeutet der Begriff "mehrkonfessionell", und wie ermöglicht er eine Unterscheidung, wenn selbst Belgien unter mehrkonfessionell firmiert?
Die Chance, einmal auszuloten, wie weit man Laizismus als Konfession betrachten kann, nehmen die Autoren nicht wahr. Nur Daniel Mollenhauer fragt eingangs, was Frankreich (nach 1870 zu 98% katholisch) in einem Band zu multikonfessionellen Gesellschaften "zu suchen hat" (202), und setzt immerhin zur Überlegung an, das heterogene Lager der Antiklerikalen, Freidenker, Atheisten und Laizisten als "konkurrierende 'Konfession'" zu bezeichnen, kommt jedoch mit seiner Lösung über ein in Anführungsstriche gesetztes Wort "Konfession" nicht hinaus. Schon Zeitgenossen wie Ferdinand Buisson sprachen von "La foi laïque" (1912). Doch eine vertiefte Diskussion dazu sowie ein Vergleich zwischen mono- und mehrkonfessionellen Gesellschaften wie überhaupt ein internationaler Vergleich (im Unterschied zu nebeneinander stehenden Nationalstudien) ist nicht beabsichtigt. Viel zu selten darf man sich über internationale Verbindungen ziehende und gewichtende Sätze freuen wie diesen: "Der Antiklerikalismus [in Italien] war sicher stärker als in Deutschland, aber heterogener und schwächer als in Frankreich", schätzt Oliver Janz in seinem Beitrag über die Verdrängung religiöser Symbole durch nationale im Kampf um die Besetzung der Räume in der Hauptstadt Rom (241).
Das Problem Nation und Religion wird in den einzelnen Aufsätzen und dank der zusammenbindenden Überlegungen der Herausgeber in den verschiedensten Facetten gut beleuchtet. Die ersten neun Beiträge, von denen bei acht der Schwerpunkt zwischen 1848 und 1918 liegt, zeigen, dass es der Nation selbst im sogenannten "Zeitalter des Nationalismus" nicht gelang, Religion und Konfession zu verdrängen. Der konfessionelle Faktor musste vom Nationalismus ernst genommen werden, wie auch die Nationalismusforschung ihn inzwischen nicht mehr vernachlässigt. Eine einfache Bilanz nach Gewinnern und Verlierern geht nicht auf. Dafür ist der Zusammenhang, wie die vorliegende Studie bestätigt, zu komplex. Die Kirchen und religiösen Gruppierungen mussten sich zur Nationalisierung und zur neuen Legitimationsinstanz Nation in ein (positives oder negatives) Verhältnis setzen - und umgekehrt: Die Nation trat in eine positive Beziehung zu oder in den Kampf gegen konfessionelle Traditionen ein.
Dabei öffneten sich zwei Wege: einmal die Konfessionalisierung und Sakralisierung der Nation, parallel zur oder als Folge der Nationalisierung einer Konfession - oder der alternative Weg der schroffen Entkonfessionalisierung der Nation, ihrer Laisierung. Die Folge sowohl der Konfessionalisierung der Nation als auch ihrer Laisierung war oft die Selbstnationalisierung der abgehängten Konfessionen, die vom Nationsbildungsprozess nicht ausgeschlossen sein mochten.
Als Beispiele für den ersten Fall bietet es sich an, die Konfessionalisierung der Nation durch die protestantisch-nationale Dominanzkultur in Konkurrenz zu katholischen Nationsvorstellungen zu beschreiben, wie es Frank-Michael Kuhlemann für Deutschland und Franziska Metzger für die Schweiz unternehmen. Für die starke polnische Minderheit in Preußen, die Albert S. Kotowski analysiert, bildeten Katholizismus und Nation geradezu eine Einheit. Eine Konfessionalisierung besonderer Art ließen sich die Tschechen einfallen, die in Jan Hus einen beinahe vergessenen Kirchenrebellen zum Religionsstifter ihrer gegenkatholisch konfessionalisierten Nationsvorstellung aufbauten, wie Martin Schulze Wessel demonstriert.
Dagegen stehen die Beispiele für die Laisierung der Nation. Sie konnte in krasser Abgrenzung, ja Feindschaft gegen die gesellschaftliche Konfessionskultur erfolgen. Der französische Fall ist am bekanntesten. Daniel Mollenhauer untersucht, wie die Nationalsymbole eben nicht einten, sondern spalteten, weil Katholiken der "gräßlichen Marseillaise" noch in den 1870er-Jahren eine Sacré Cœr Hymne entgegensetzen oder sie die fromme, gottgesandte Jeanne d'Arc der republikanisch-laizistischen Jeanne Darc aus dem einfachen Volke entgegenstellten. Andererseits fragt sich, bei aller Feindschaft, wie sehr das laizistische Bürgertum nicht doch manchen kirchlichen Bindungen verhaftet blieb und es auf lokaler und privater Ebene zu katholisch-republikanischen Kompromissen kam, wie es Oliver Janz am italienischen Fall und Johannes Koll für Belgien andeuten.
Die ersten neun Artikel sind in zwei Themenblöcken reizvoll arrangiert. Für Deutschland, die Schweiz, Belgier und Tschechen wird gezeigt, wie Reformation und Gegenreformation für konkurrierende Nationskonstruktionen instrumentalisiert wurden, etwa in der zeitgenössischen Historiografie. Im zweiten Block stehen religiöse und nationale Symbole im Vordergrund, in Rom, Frankreich und Polen sowie bei britischen Kriegerdenkmälern (Sven Oliver Müller) und bei den drei Monarchen Kaiser Wilhelm II., Königin Viktoria und Kaiser Franz Joseph (Christiane Wolf).
Die abschließenden drei Artikel über Muslime in Deutschland (Jamal Malik), Frankreich (Klaus Manfrass) und Großbritannien (Karen Schönwälder) in der Gegenwart fallen zeitlich und thematisch (die Religion Islam als Konfession?) ein wenig aus dem Rahmen, machen aber deutlich, dass Spannungen zwischen religiösen und nationalen Identitäten nicht der Geschichte angehören, sich aber von einer konfessionellen auf eine säkulare versus religiöse Ebene verlagert haben.
Olaf Blaschke