Jürgen Elvert / Susanne Krauß (Hgg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen, 2001 (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 46), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003, 287 S., ISBN 978-3-515-08253-2, EUR 44,00
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Debatten über Historikerkontroversen beschäftigen die Geschichtswissenschaft immer wieder. So erschienen in jüngster Zeit zwei Bände zum Thema von William Lamont und Volker Dotterweich; Hartmut Lehmann gab 2000 einen weiteren, Anneliese Thimme zum 80. Geburtstag gewidmeten heraus. [1] Auch der vorliegende Band entstand aus besonderem Anlass: Er dokumentiert das 50-jährige Bestehen der Ranke-Gesellschaft, die nach eigenem Selbstverständnis eine "Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben" ist.
Die Sammlung enthält 15 Beiträge, die nicht auf Kontroversen im engeren Sinne beschränkt sind, sondern auch Debatten um unterschiedliche historische Auffassungen näher beleuchten. Ein paar Aufsätze fallen aus diesem weiten Rahmen heraus und wären besser an anderer Stelle veröffentlicht worden: Bei Michael Gehlers Beitrag "Vom Sonderfall zum Modellfall?" handelt es sich um eine Sammelrezension über drei Darstellungen zur österreichischen Staatsbildung um 1955, die hintereinander behandelt werden, ohne dass sich ein Gegenstand jenseits der Einzelkritiken abzeichnete. Noch enger begrenzt ist Hubert Kiesewetters Auseinandersetzung mit Alexander Demandts Band "Ungeschehene Geschichte". Der Autor zitiert seitenlang absatzweise aus Demandts Buch, das 1984 (!) erschien, um Bedenken an der kontrafaktischen Geschichtsschreibung vorzubringen, die allgemein bekannt sind und für manche sogar deren Reiz bedeuten. Auch der Beitrag Ulrich Muhlacks über "Leopold von Ranke und die Begründung der quellenkritischen Geschichtswissenschaft" trifft nicht genau das Thema. Gleichwohl ist Muhlack spürbar bemüht, seinen Beitrag, dessen Aufnahme in den Band sicherlich auch mit der Namensgeberschaft Rankes für die Gesellschaft zu legitimieren ist, auf das Thema zu beziehen, indem er die Positionen Rankes und der Gegner seiner quellenkritischen Methode deutlich gegeneinander stellt. Ähnlich problematisch im genannten Kontext ist auch Carl August Lückeraths "Die Diskussion über die Pirenne-These"; doch wäre es ein Verlust gewesen, hätte man auf diesen durch seinen Überblick überzeugenden Beitrag verzichtet. Lückerath skizziert die mittelalterliche Pirenne-These, um anschließend deren kritische Rezeption in Belgien / Frankreich, Deutschland und Großbritannien / USA bis heute zu verfolgen. Im Unterschied zur neuzeitlichen, die den belgischen Nationsbildungsprozess betrifft, versteht die mittelalterliche These die Epochenschwelle zwischen Antike und Mittelalter nicht als Bruch, sondern als Übergang, der nicht allein mit innenpolitischen Gründen des Römischen Reichs zusammenhing.
Gänzlich misslungen ist die Einleitung des Herausgebers und derzeitigen Vorsitzenden der Ranke-Gesellschaft. Elvert, der ansonsten die Beiträge des Bandes langatmig zusammenfasst, beruft sich zur Legitimation des Themas auf die PISA-Studie, um die Bedeutung historischen Bewusstseins zu unterstreichen. Gibt es für diese Legitimation nicht bessere Gründe, als eine Untersuchung zur allgemeinen Erziehungslage, die nicht mangelndes historisches Bewusstsein, sondern vor allem fehlende Sprachkompetenz infolge sozialer Missstände beklagt? Schlimmer noch ist Elverts Behauptung: "Heute gelten Droysen und Treitschke als Rankeaner". Bei wem denn nur? Ranke und Droysen waren sich selbst ihrer Unterschiede nur zu bewusst, wie Droysens "Historik" belegt; und auch heute dient das Ranke'sche Streben nach Objektivität einerseits und der Droysen'sche Konstruktionsbegriff andererseits viel zu oft als Folie, um zwei verschiedene Forschungsauffassungen idealiter einander gegenüberzustellen.
Äußerst problematisch ist auch der Beitrag über die Geschichte der Ranke-Gesellschaft von deren ehemaligem Vorsitzenden. Michael Salewskis Ausführungen sind eine unangemessene Überhöhung der Leistungen dieser Gesellschaft, die als die maßgebliche geschichtswissenschaftliche Institution der deutschen Nachkriegsgeschichte präsentiert wird. Schlimmer noch ist, dass Salewski für seinen Beitrag nicht die Form der historischen Darstellung, sondern die eines politischen Essays mit Weißwaschungseffekt gewählt hat. Ziel ist es nämlich, gegen die Feststellung anzugehen, dass die Ranke-Gesellschaft in einem Umfeld ehemaliger Nationalsozialisten entstanden und von diesen noch lange Jahre geleitet worden ist. Dies gelingt nicht, denn Salewski muss selbst einräumen, dass Gustav Adolf Rein (seit 1938 Leiter des Instituts für Kolonial- und Überseegeschichte und Geschichte des Deutschtums im Ausland), Günther Franz (seit 1939 Mitarbeiter im Persönlichen Stab Reichsführer SS ["Ahnenerbe"]), Ernst Anrich (seit 1940 Mitarbeiter von SS und Reichssicherheitshauptamt) und andere ideologisch wie fachlich tief ins NS-Regime verstrickt waren. Allerdings könne man dies nur behaupten, wenn "wir 'unser' Verständnis, 'unser' Wissen vom Nationalsozialismus als Maßstab auch für die fünfziger und die frühen sechziger Jahre nehmen". Salewski suggeriert: Weil Rein und seine Mitstreiter sich selbst nicht als Nationalsozialisten verstanden, konnten sie zwar in heutigem Sinn bis weit in die bundesrepublikanische Geschichte hinein rechtsradikal denken und (in ihren Programmentwürfen für die Gesellschaft) auch handeln, aber die Ranke-Gesellschaft selbst war nicht 'braun', weil ja kein Bewusstsein bei ihren Vertretern vorhanden waren, dass sie die NS-Ideologie kolportieren. Die "anscheinend so problemlose Klassifizierung der Historiker in solche, die 'braun' waren, es blieben, und solche, die 'braun' waren und es nicht blieben, [ist] fragwürdig". Was für andere Institutionen in den letzten Jahren gut gelang, wird hier verweigert: In seiner salvatorischen Beschränkung vergibt der Beitrag Salewskis die Chance, die Geschichte der Ranke-Gesellschaft, deren heutige demokratische Festigkeit kaum jemand anzweifeln wird, kritisch aufzuarbeiten und dadurch positiv für die Zukunft zu wenden.
Der Ärger über solche Beiträge dominiert einen Band, der durchaus auch lesenswerte Ausführungen enthält: etwa jene Albrecht Ritschls über die Borchardt-These zu Brünings Deflationspolitik, die kritisch in ihrer Rezeption aufgezeigt und in den heutigen Wissenskontext eingereiht wird; oder Klaus Schwabes Beitrag "Geschichtswissenschaft als Oppositionswissenschaft", der die Auseinandersetzung zwischen Gerhard Ritter und dem "Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland" skizziert. Zu erwähnen ist auch der Aufsatz des verstorbenen Wolfgang J. Mommsen über die "gestürzten Denkmäler" Aubin, Conze, Erdmann und Schieder, der zwar kaum Neues zu diesem Thema bringt, aber eine konzise Synthese darstellt. Nachvollziehbar ist die von Thomas Brechenmacher in seinem Aufsatz vorgestellte These, dass die geschichtspolitische Kontroverse zwischen Sybel und Ficker die Geschichtswissenschaft methodisch weiter gebracht habe, da beide Historiker "angesichts des unabweisbaren Politisierungsprozesses der Geschichte" um die Herausbildung eines "wissenschaftlich soliden und seriösen Standpunkts" gerungen hätten.
Anmerkung:
[1] William Lamont (Hg.): Historical controversies and historians. London u. a. 1998; Volker Dotterweich (Hg.): Kontroversen der Zeitgeschichte: Historisch-politische Themen im Meinungsstreit. München 1998; Hartmut Lehmann (Hg.): Historikerkontroversen. Göttingen 2000.
Stefan Jordan