Friedrich Heyer: Kirchengeschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. Von der Epochenwende des Ersten Weltkrieges bis zu den Anfängen in einem unabhängigen ukrainischen Staat, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 556 S., 18 Abb., ISBN 978-3-525-56191-1, EUR 99,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Vor fünfzig Jahren schrieb der Heidelberger Theologe Friedrich Heyer eine Pionierarbeit zur ukrainischen Kirchengeschichte (Die Orthodoxe Kirche in der Ukraine 1917-1945, Köln 1953), die er nun bis nahe an die Gegenwart heran fortgeführt, überarbeitet und um Abschnitte über andere christliche Kirchen ergänzt hat. Dies ist in zweierlei Hinsicht lobenswert: Zum einen gibt es bis heute keine vergleichbare Publikation, womit Heyer wie mit seinem früheren Buch wieder eine Position der Standardliteratur geschaffen hat; zum anderen hat in der postsowjetischen Ukraine die Rückkehr zur religiösen Freiheit der kirchenhistorischen Thematik einen unverhofften Gegenwartsbezug verschafft. Was also damals ein weitgehend abgeschlossenes Phänomen zu beschreiben schien, hat nun eine andere Bedeutung erhalten: Die Kenntnis der Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts ist eine notwendige Voraussetzung, um die Querelen zwischen den diversen rivalisierenden Religionsgemeinschaften überhaupt zu verstehen. Mit allein vier großen, im byzantinischen Ritus zelebrierenden christlichen Gemeinschaften ist dabei dieser Teil des religiösen Spektrums in der Ukraine das Komplizierteste, was die europäische Kirchengeschichte derzeit zu bieten hat.
Heyer hat keine eigenen Archivstudien unternommen. Vor 50 Jahren war das auch weitgehend unmöglich, heute muss es als Manko gelten. In seinem ersten Buch stützte er sich nicht zuletzt auf Gespräche mit geflohenen Geistlichen - den Begriff "oral history" gab es noch nicht -, heute sind neben seinen früheren Erkenntnissen Informationen aus unzähligen verstreuten Artikeln in teilweise abgelegenen Kirchenpublikationen seine wichtigste Quelle. Er hat damit dieses angesammelte Wissen verfügbar gemacht, bewegt sich aber andererseits in einem Diskurs, der - neben den Rivalitäten der einzelnen Kommunitäten - eine spezifisch gefilterte Sicht der Geschichte bietet.
Die Genese der Neuausgabe ist noch erkennbar: So kommt etwa in den Abschnitten zur Reorganisation nach dem Ersten Weltkrieg, zur Lage in der Sowjetunion und in Polen in der Zwischenkriegszeit wie auch im Zweiten Weltkrieg die unierte Kirche nicht oder nur auf wenigen Seiten vor. Das entsprach schon dem damaligen Titel nur partiell, ist aber mit dem neuen, in dem der Anspruch auf eine Gesamtdarstellung erhoben und für die Zeit nach 1945 auch eingehalten wird, nicht vereinbar. Dafür ist die solide Behandlung der sowjetfreundlichen Obnovlency positiv hervorzuheben. Die Literatur für diese erste Zeit ist nur in Teilen auf einen neuen Stand gebracht worden (vor allem fehlen Angaben zu Publikationen in der Ukraine), während die neu geschriebenen Teile für die Jahre nach 1945 auf einer durchweg besseren Quellen- und Literaturbasis beruhen.
Die beschränkte Literaturgrundlage (zum Beispiel fehlt für den Zweiten Weltkrieg das wichtige Buch von Jan Sziling aus dem Jahre 1988) brachte es auch mit sich, dass die Anbiederung der Kirchen an die deutsche Okkupationsmacht kein Thema ist. Die Förderung der Autokephalen durch die Deutschen wird auf nicht ganz einer Seite angesprochen (301), dass auch die Autonome Kirche (die weiterhin der Moskauer Jurisdiktion unterstellt war) im Zuge einer Politik des divide et impera ausgleichende Förderung erfuhr, bleibt ebenso unerwähnt wie die Haltung der Kirchen ihrerseits. Dabei wären Denunziationen und Kollaborationsaufrufe sicherlich geeignet, das hier etwas zu glatte Bild realistischer darzustellen. Da für den Zweiten Weltkrieg die Unierten auf gerade einmal drei Seiten abgehandelt werden (253-256), gibt es auch nur zwei Zeilen darüber, dass durch deren Klöster auch Juden gerettet wurden - und keine Überlegung dazu, warum in Bezug auf die Orthodoxen ähnliches nicht zu berichten ist.
Kleinere Fehler sind bei einem solchen Werk sicher unvermeidlich, aber den Metropoliten Šeptyc'kyj als Meľnyk-Anhänger (244) und Volodymyr Kubijovyč als "Hauptmann" der SS Galizien vorzustellen (255), ist schon mehr als problematisch. Wer eine versachlichte historiografische Sprache gewohnt ist, wird auch Probleme mit einem nicht selten hagiografischen Duktus haben, wo viel von "Märtyrern" und sehr verklärt klingenden Verhältnissen von Klerikern zueinander die Rede ist.
Der eher zwiespältige Eindruck des Bandes lässt eine kritische, stärker problematisierende Kirchengeschichte weiterhin als Desiderat erscheinen. Viel wäre aber schon gewonnen gewesen, wenn Heyer in seinem neueren Schreibstil, mit dem er die Zeit nach 1945 beschrieben hat, auch die aus seinem früheren Band übernommenen Texte überarbeitet hätte. Durch die theologischen Erläuterungen des historischen Ablaufs behält das Buch nämlich trotz der kritisierten Elemente seinen Wert.
Frank Golczewski