Rezension über:

Christine Onnen: Saint-Urbain in Troyes. Idee und Gestalt einer päpstlichen Stiftung (= Kieler Kunsthistorische Studien. Neue Folge; Bd. 4), Kiel: Verlag Ludwig 2004, 158 S., 150 Abb., ISBN 978-3-933598-26-4, EUR 39,90
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Rezension von:
Marc Carel Schurr
Université de Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Marc Carel Schurr: Rezension von: Christine Onnen: Saint-Urbain in Troyes. Idee und Gestalt einer päpstlichen Stiftung, Kiel: Verlag Ludwig 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/4478.html


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Christine Onnen: Saint-Urbain in Troyes

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Christine Onnen hat mit ihrer Dissertation die erste deutschsprachige Monografie zur päpstlichen Stiftskirche Saint-Urbain in Troyes vorgelegt, einem der kunstgeschichtlich bedeutendsten Monumente der Gotik. Trotz des bislang schmerzlich empfundenen Fehlens eines solchen Buches war die Forschung in den Jahrzehnten zuvor nicht untätig gewesen, sodass Onnen neben den französischsprachigen Monografien und Quelleneditionen des 19. Jahrhunderts auch auf neuere Arbeiten, insbesondere von Salet, Davis und Bruzelius, zurückgreifen konnte. Darauf aufbauend hat sich Onnen eine Präzisierung der Baugeschichte, vor allem aber der architekturhistorischen Einordnung vorgenommen, welche "die unterschiedlichen Aspekte der Architektur des Baus und seiner Geschichte nicht nur additiv zusammenfügt, sondern auch deren Verflechtung" (18) analysieren soll.

Zunächst bietet die Autorin in zwei einleitenden Kapiteln einen Überblick über die allgemeinen historischen Voraussetzungen des Neubaus im Gefüge der kirchlichen Institutionen der Stadt Troyes sowie, daran anschließend, eine Darstellung des Quellenmaterials zur Baugeschichte von Saint-Urbain selbst. Dankbar nimmt der Leser diese Materialsammlung zur Kenntnis, vereint sie doch bislang mehr oder weniger verstreut publizierte Informationen an einem Ort und führt sie einer kritischen Bewertung zu.

Der hierauf folgende erste Hauptteil des Buches widmet sich der Baugeschichte und der Datierung von Saint-Urbain. Lobenswerterweise hat Christine Onnen in einem eigenen Abschnitt die umfangreichen Maßnahmen zur Restaurierung und Vollendung des Baus im 19. und frühen 20. Jahrhundert berücksichtigt, was bei Monografien zu mittelalterlichen Baudenkmälern leider immer noch keine Selbstverständlichkeit ist. Der Schwerpunkt liegt jedoch, der Fragestellung der Arbeit entsprechend, auf den mittelalterlichen Bauteilen. Hier finden sich nach Auffassung des Rezensenten die stärksten Passagen des Buches. Die Autorin versteht es die gestalterischen Besonderheiten der Architektur von Saint-Urbain differenziert und einfühlsam zu beschreiben. Auch ihre Abwägung der verschiedenen Argumente hinsichtlich der Abgrenzung der einzelnen Bauphasen ist sorgfältig und durchaus überzeugend, wobei Onnen gegen Davis wieder zur Periodisierung von Salet zurückkehrt. Lediglich die zeitliche Stellung der dritten und letzten Bauphase, die Salet sehr spät und unmittelbar vor die Schlussweihe von 1389 datiert hat, verlegt Onnen mit Blick auf eine Reihe von zwischen 1315 und 1371 erfolgten Altarstiftungen in die Mitte des 14. Jahrhunderts. Hier bleibt allerdings anzumerken, dass sowohl die Unterscheidung der einzelnen Bauphasen als auch die Datierung der jüngeren Bauteile - abgesehen von den nicht lokalisierbaren und daher nur begrenzt aussagefähigen Altarstiftungen - sich allein auf Formbeobachtungen stützen. Eine sorgfältige und solide bauarchäologische Analyse, die nach der festen Überzeugung des Rezensenten den Erkenntnisstand zu Saint-Urbain erheblich verbessern könnte, bleibt nach wie vor ein Desiderat.

Dies erscheint um so bedauerlicher, als auch die stilgeschichtliche Einordnung der dritten Bauphase nicht ohne Tücken ist. Zwar beschreibt Onnen gekonnt die Hinwendung zu einem kubisch-reduzierten Gliederapparat und einer plastischen Wandauffassung in den Westteilen der Troyeser Stiftskirche, findet jedoch keine passenden Vergleichsbeispiele unter den gleichzeitigen Bauten in Frankreich. So kommt sie zur Auffassung, dass der damalige Baumeister von Saint-Urbain einen "erstaunlich innovativen Stil entwickelte, für den die Zeit noch lange nicht reif war" (86) und der sich dementsprechend kaum datieren lässt. Dabei hat sie allerdings übersehen, dass sich analoge stilistische Entwicklungen im Reich bereits um 1300 manifestieren, und dies noch dazu im Umfeld zweier Dombauhütten, deren künstlerische Nähe zu Saint-Urbain die Autorin an anderer Stelle zu Recht hervorgehoben hat: nämlich Straßburg und Regensburg. So ist die Plastizität der Wandauffassung in Troyes - die sich übrigens, entgegen der Auffassung der Autorin, bereits in den Wänden des Langchores ankündigt - durchaus vergleichbar mit dem um 1300 festgelegten Wandsystem des Regensburger Domes, und die kubisch reduzierten Glieder finden eine Entsprechung im vor 1312 unter der Leitung eines Sohnes des Straßburger Werkmeisters Erwin begonnenen Langhaus der Stiftskirche St. Florentius in Niederhaslach. So gesehen ließe sich die dritte Bauphase von Saint-Urbain durchaus in das frühe 14. Jahrhundert datieren, was im übrigen gut zu der von Onnen angeführten Urkunde von 1355 passt, die von einem "dans la neffe" (85), im Schiff also, gesungenen Salve berichtet.

Der zweite Hauptteil von Christine Onnens Buch behandelt "Die Stellung von Saint-Urbain in der gotischen Architektur" (95). Das Kapitel gliedert sich in zwei Abschnitte, von denen der erste den Details der Formensprache, der zweite der Typengeschichte gewidmet ist. In ersterem werden die teilweise bereits in Zusammenhang mit der Baugeschichte erwähnten und aus der Literatur sattsam bekannten Vergleichsbeispiele einer erneuten Betrachtung unterzogen. Nicht allen vorgeschlagenen Ableitungen vermag der Rezensent dabei zu folgen. So ist das von Onnen als Vorläufer des raumtrennenden Schleierwerks der Nebenchöre von Saint-Urbain apostrophierte freistehende Maßwerk im westlichen Seitenschiff des Südquerhauses der Kathedrale von Amiens tatsächlich zunächst ein nach außen gerichtetes Fenster gewesen und erst durch den nachträglichen Einbau der Langhauskapellen zu einem raumtrennenden Gitterelement geworden.

Gerade angesichts der großen überregionalen Bedeutung der Architektur von Saint-Urbain hätte man sich in diesem Abschnitt zudem eine intensivere Auseinandersetzung mit den formalen Eigenheiten der Vergleichsbauten gewünscht. Wenn beispielsweise der Regensburger Domchor mit einer schlichten Erwähnung im Zusammenhang mit den Grundrissen (103) sowie einem kurzen Absatz von gerade einmal 18 Zeilen abgehandelt wird (121), dann ist, insbesondere vor dem Hintergrund der Kapitelüberschrift, dem verblüffenden Phänomen der zahlreichen bis ins Detail gehenden formalen Übereinstimmungen mit der päpstlichen Stiftskirche einfach nicht Genüge getan. Sehr überzeugend und genau beobachtet sind hingegen die Feststellungen zum engen Verhältnis zwischen dem Kathedralbau in Troyes und Saint-Urbain, welche ein Hervorgehen des Entwerfers der Stiftskirche aus der Dombauhütte durchaus denkbar erscheinen lassen.

Auch der den Bautypen gewidmete zweite Abschnitt des Kapitels lässt noch Wünsche offen. Zwar ist das Bestreben der Autorin, Stil- und Typengeschichte voneinander zu trennen, in höchstem Maße zu begrüßen, führt dies bei einer Analyse der Form doch im allgemeinen zu klareren und differenzierteren Ergebnissen. Umso größer ist die Enttäuschung, wenn im Folgenden Typus und Funktion der Bauten nicht klar voneinander abgegrenzt, ja in der Regel sogar verwechselt werden. So konnte Onnen schließlich im Anschluss an Sedlmayrs Interpretation der Architektur der Pariser Sainte-Chapelle zu einer Klassifizierung des Chores von Saint-Urbain als "reduzierte Form eines Kathedralchores" (127) kommen. Dies ist nach Ansicht des Rezensenten eine beinahe irreführende Vereinfachung, folgt die päpstliche Stiftskirche doch gerade nicht dem an den Kathedralen Frankreichs üblichen Typus des basilikal gestuften Umgangschores mit Radialkapellen, sondern dem Typus des apsidial geschlossenen Staffelchores.

Trotz dieser kleinen Ungereimtheiten bleibt das Verdienst, der deutschsprachigen Leserschaft eine gut bebilderte und ansprechend gestaltete Monografie über eines der großen Meisterwerke der europäischen Baukunst vorgelegt zu haben. Sie wird der komplizierten Forschungsgeschichte in vollem Umfang gerecht und trägt durch eigene Beobachtungen zu einem besseren Verständnis dieses auch aus der Perspektive der Architekturgeschichte in den deutschsprachigen Ländern eminent wichtigen Baus bei.

Marc Carel Schurr