Mathis Leibetseder: Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Heft 56), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 258 S., 8 Abb., ISBN 978-3-412-14003-8, EUR 34,90
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Untersuchungen zu den Bildungsreisen des Adels haben Konjunktur. Nach langer Vernachlässigung hat die Forschung die Kavalierstour in den letzten Jahren als lohnenden Gegenstand entdeckt. Eine ganze Reihe von Monografien und Sammelbänden befasst sich mit den adligen Länderreisen als einer wesentlichen Form frühneuzeitlicher Mobilität, einem wichtigen Bestandteil des Erziehungsprozesses frühmoderner Eliten oder einem Medium des internationalen Kultur- und Wissenstransfers. [1]
Die Grundzüge der Entwicklung sind dabei wohl bekannt. Entstanden im 16. Jahrhundert im Geiste des Humanismus, sollte die Kavalierstour den Söhnen des Adels im Anschluss an die heimische Ausbildung die Gelegenheit zum Studium an einer auswärtigen Universität oder Ritterakademie geben. Gleichzeitig sollte den jungen Adligen durch den Besuch der großen europäischen Höfe und der urbanen Zentren West- und Südeuropas geschliffene höfische Umgangsformen vermittelt werden. Der Erwerb sozialer Kompetenz stand im Mittelpunkt der Reisen, die in den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden ihre Hochzeit erlebten, als insbesondere der Hof Ludwigs XIV. und Italien zu Hauptanziehungspunkten wurden.
Diese klassische Phase ging freilich im frühen 18. Jahrhundert zu Ende. Unter dem Eindruck aufgeklärter Kritik und landesherrlicher Restriktionen wandelten sich die Touren grundlegend: Sie mutierten zu spezialisierten Bildungsreisen, die nicht mehr der Perfektionierung des äußerlichen Betragens und der Einübung höfischer Tugenden, sondern der Ausbildung künftiger Beamten dienten, weshalb plötzlich Manufakturen, soziale Einrichtungen oder politische Institutionen in das Besichtigungsprogramm aufgenommen wurden. Die Grenzen zu bürgerlichen Reiseformen begannen zu verschwimmen, die Kavalierstour ging in den Reisen der gebildeten Stände auf.
An den großen Linien dieses Bildes wird sich auch durch die Arbeit von Mathis Leibetseder nichts ändern. Die an der Technischen Universität Berlin approbierte Dissertation hat jedoch andere Stärken. Sie nimmt sich der archivalischen Hinterlassenschaft der jungen Adligen an und rekonstruiert aus Rechnungen, Briefwechseln, handschriftlichen Reiseberichten und Instruktionen in bislang kaum gekanntem Umfang den Alltag der Reisen. Leibetseder hat für den Zeitraum von 1620 bis 1774 die Unterlagen von 20 Adelsreisen, zum Teil von mehreren Generationen derselben Familie, ausgewertet. Die untersuchten Geschlechter entstammen dem katholischen wie dem evangelischen Adel und sind in verschiedenen Landschaften des Alten Reichs (im wesentlichen Bayern, Brandenburg und Sachsen) beheimatet. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Vertreter des landsässigen Adels (Törring, Landsberg, Sierpstorf, Arnim, Lynar, Zinzendorf), doch sind auch ein reichsunmittelbares Geschlecht, jenes der Reuß, und zwei Nürnberger Patrizierfamilien (Fürer, Löffelholtz) vertreten.
Die Reisen selbst werden in sechs Querschnittskapiteln oder Teilen, um Leibetseders Wortwahl zu folgen, näher beschrieben. Teil I widmet sich den normativen Vorgaben für die reisenden Söhne, wie sie sich in den von Vätern und Vormündern, in einem Fall sogar von einer Mutter verfassten Instruktionen niederschlugen, und diskutiert generell das Verhältnis zwischen den Kavalieren und ihren zurückgebliebenen Familien, während Teil II die finanzielle Seite der Länderreisen behandelt - von den verschiedenen Möglichkeiten der Finanzierung über eine Aufschlüsselung der einzelnen Ausgabenpositionen bis hin zu den praktischen Unwägbarkeiten des Transfers größerer Geldsummen im frühneuzeitlichen Europa.
Die Teile III und IV beschreiben dann die personelle Zusammensetzung der Reisegruppen, deren Leitung im 17. Jahrhundert noch der junge Adlige selbst, im 18. Jahrhundert aber meist ein Hofmeister innehatte. Des Weiteren werden der Ablauf der Studien sowie die Besuche bei Hofe thematisiert, die in der Regel durch Professoren, die Direktoren von Ritterakademien und zu einem ganz beträchtlichen Teil auch durch die diplomatischen Vertreter des eigenen Landesherren beziehungsweise - im Falle der Nürnberger Patrizier - des Kaisers vermittelt wurden.
Eigene Kapitel befassen sich auch mit den Risiken (Krankheit, Tod, Unfall) beziehungsweise Chancen (Karriere) der Länderreisen (Teil VI) sowie den Reiseberichten, die im 17. Jahrhundert noch stark dem Ideal der Inventarisierung der materiellen Welt, der Verzeichnung und Ordnung der Reiseorte und Monumente, verhaftet waren, im 18. Jahrhundert aber zusehends den gesellschaftlichen Umgang in den Reiseorten thematisierten (Teil V). Ein Ausblick auf das Ende der klassischen Kavalierstour im Zeitalter der Aufklärung (Teil VII) rundet die Darstellung ab.
In allen Kapiteln hat Leibetseder dabei Aufschlussreiches zu berichten. Gerade die Abschnitte über die Kosten der Reisen oder seine Ausführungen zur Bedeutung von Professoren und Diplomaten als Vermittler des Zugangs zu den gehobenen Kreisen der Gesellschaft lesen sich faszinierend. Bemerkenswert ist gleichfalls der hohe Stellenwert der Religion während der Reisen noch im 18. Jahrhundert. Wiederholt begegnen Hinweise auf Diskussionen über religiöse Themen mit Reisebekanntschaften, auf Beschreibungen religiöser Zeremonien, auf Versuche, die jungen Adligen zur Konversion zu bewegen, oder auf den Gottesdienstbesuch der Reisenden in Gesandtschaftskapellen.
Immer wieder gelingt es Leibetseder auch, weiterführende Perspektiven aufzuzeigen. So macht er deutlich, wie bedeutsam die Kavalierstouren als politische Informationskanäle für die Zuhausegebliebenen waren, wie sie bisweilen sogar den Rang informeller Gesandtschaften annehmen konnten (121, 137, 158, 161, 162). Nicht weniger aufschlussreich ist eine andere Beobachtung, wonach die Kavalierstouren, zu deren Vorbereitung Verwandte und Freunde um Rat gefragt wurden und in deren Verlauf sich Sprösslinge befreundeter Familien oftmals zu Reisekompanien zusammenschlossen, gerade im 17. Jahrhundert zur Stärkung familialer Netzwerke eingesetzt wurden (103).
Generell betont Leibetseder auch die enge Bindung zwischen den jungen Adligen und ihren Familien selbst während der Reise. Die väterliche Kontrolle war beispielsweise in Gestalt von Instruktionen, Hofmeistern oder befreundeten Ministern, Höflingen und Diplomaten an den Zielorten stets präsent. Er widerspricht damit der in der Reiseforschung allzu eilfertig vertretenen Ansicht, der Kavalier sei seinem sozialen Bezugsfeld - anders als sein bürgerliches Pendant - durch die Reise entrissen worden (52, 103). Auch andere Deutungen in der Literatur, etwa die verkürzte Sicht der Kavalierstour als Vergnügungsreise oder ihre ethnologische Überhöhung als Übergangsritus, weist er mit guten Gründen zurück, auch wenn er in letzterem Falle eine gewisse initiierende beziehungsweise integrierende Funktion der adligen Bildungsreise zugesteht.
An manchen Stellen hätte man sich freilich eine stärkere Berücksichtigung weiterer Aspekte des Themas gewünscht. Ausgeblendet bleibt etwa die Erfahrung des Fremden. Obwohl Leibetseder selbst immer wieder versteckte Hinweise auf die "unsichtbare Linie zwischen den Reisenden aus der Fremde und der einheimischen Gesellschaft" (121) gibt (zum Beispiel 82, 104, 121, 210), geht er dieser Frage nicht nach. Kaum beleuchtet wird auch der Erwerb von Kunstgegenständen oder die Formierung eines ästhetischen Geschmacks, wie sie doch beispielsweise für die englische Grand Tour konstitutiv waren (184-187). Auch die sexuellen Verlockungen, denen die jungen Adligen ohne Zweifel ausgesetzt waren, werden kaum (123 f.) angesprochen.
In diesem wie auch in einigen anderen Fällen, etwa wenn es um das Glückspiel geht, nimmt Leibetseder die für die Augen des Vaters beziehungsweise Vormunds bestimmten moralsicheren Aussagen in den Briefen wohl zu ernst, verkennt er rhetorische Strategien der Camouflage (vergleiche 78-80, 82) , wie er überhaupt den genrehaften Charakter seiner Reiseerzählungen, etwa im Hinblick auf die inhaltliche Abhängigkeit von Berichten verschiedener Generationen derselben Familie, nicht diskutiert. Auch eine konzeptionelle Schwäche sei an dieser Stelle nicht verschwiegen: es hätte die Lektüre zweifellos erleichtert, wenn Leibetseder im Anhang eine kurze Aufstellung der zwanzig Reisegruppen und ihrer Ziele gegeben hätte.
All diese Einwände sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dieser gut geschriebenen Arbeit eine profunde Fallstudie zu den Kavalierstouren des deutschen Adels, insbesondere des Landadels, vorliegt. Leibetseder schränkt zwar selbst bescheiden ein, dass er "nicht den Wandel der Kavalierstour, sondern lediglich einzelne Aspekte von Wandlungen, welche die Kavalierstouren in ausgewählten Familien durchliefen" (15) beschreibe, doch verdienen die Ergebnisse und Anstöße seiner Untersuchung die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der gerade in Schwung geratenen Forschung.
Anmerkung:
[1] Vgl. u.a. Antje Stannek: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2001 (siehe hierzu die Rezension von Cornel Zwierlein, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1, URL: http://www.sehepunkte.de/2002/01/3523.html); die einschlägigen Aufsätze in Joachim Rees / Winfried Siebers / Hilmar Tilgner (Hg.): Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert. Theoretische Neuorientierung, kommunikative Praxis, Kultur- und Wissenstransfer, Berlin 2002; die jüngsten Arbeiten von Jeremy Black zur Grand Tour, die freilich nicht auf den Adel beschränkt war: Italy and the Grand Tour, New Haven / London 2003, und: France and the Grand Tour, New York / Houndmills 2003, sowie in Kürze Rainer Babel / Werner Paravicini (Hg.): "Grand Tour". Adliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (= Francia, Beihefte; Bd. 60), Stuttgart 2005.
Michael Schaich