Rezension über:

Rainer F. Schmidt: Otto von Bismarck (1815-1898). Realpolitik und Revolution. Eine Biographie, Stuttgart: W. Kohlhammer 2004, 330 S., ISBN 978-3-17-017407-8, EUR 17,00
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Rezension von:
Helma Brunck
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Helma Brunck: Rezension von: Rainer F. Schmidt: Otto von Bismarck (1815-1898). Realpolitik und Revolution. Eine Biographie, Stuttgart: W. Kohlhammer 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/7044.html


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Rainer F. Schmidt: Otto von Bismarck (1815-1898)

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Der Verfasser dieser Biografie hat sich, wie er in seinem Vorwort betont, die Aufgabe gestellt, Bismarck vor allem als "historische Größe" zu würdigen. Das ist ihm in überschaubarer Weise gelungen mit einem Werk, das zwar nicht den Umfang der oft zwei- bis dreibändigen Standardbiografien von Erich Eyck, Ernst Engelberg, Ludwig Reiners, Otto Pflanze oder Lothar Gall besitzt, aber doch wesentlich aufschlussreicher ist als die in den letzten Jahren, unter anderem zum Bismarck-Jubiläum erschienenen und zum Teil sehr komprimierten Darstellungen von Volker Ullrich (1998) oder Theo Schwarzmüller (1998), in mancher Hinsicht auch informativer als die Biografie von Johannes Willms (1999), der Bismarck als "Dämon der Deutschen" diskreditiert und auf die wichtigen Anmerkungen zu Quellen völlig verzichtet.

Rainer Schmidt beginnt mit den "Stationen der familiären Sozialisation (1815-1847)", mit Ausführungen zu Bismarcks Elternhaus, zur schulischen und universitären Ausbildung sowie mit dem Lebensabschnitt Bismarcks, der noch von teilweiser Orientierungslosigkeit gekennzeichnet war. Im Kapitel "Strukturen und Stationen der politischen Sozialisation (1847-1851)" behandelt Rainer Schmidt ausführlich Bismarcks Rolle während der Revolutionszeit 1848/49, sein gespanntes Verhältnis zu König Friedrich Wilhelm IV. und seine Kritikfähigkeit gegenüber diesem Zeitgenossen sowie gegenüber Radowitz. Auch Bismarcks damals schon feste Vorstellungen von seiner späteren Politik hebt der Verfasser gelegentlich hervor, so unter anderem in Bismarcks Brief an seine Gattin Johanna vom 27.8.1849: "Die (deutsche) Frage wird überhaupt nicht in unseren Kammern, sondern in der Diplomatie und im Felde entschieden" (42).

Ebenso wird in den folgenden Kapiteln "Gesandter am Bundestag zu Frankfurt (1851-1858)" sowie "Berufung zum Konfliktsminister (1858-1862)" vor allem darauf hingewiesen, dass es Bismarck in näherer Zukunft um die Vormachtstellung Preußens im Reich und um die Zurückdrängung und allmähliche Ausschaltung Österreichs ging, woran sich seine Größe insbesondere später messen ließ. Als preußischer Ministerpräsident seit Herbst 1862, in einer Position, auf die er nach außen hin mit scheinbarer Gelassenheit, in Wahrheit aber mit großer innerer Unruhe in Paris gewartet hatte und in der er mehr als 27 Jahre bis 1890 verharrte, vermochte Bismarck, wie hier sehr breit dargelegt wird, während der "Konfliktszeit" seine oppositionellen Gegner, die Liberalen, geschickt auszumanövrieren, welche die preußische Militärmonarchie schon nach britischem Vorbild umgestalten und eine Herrschaft des Parlaments aufrichten wollten. Bei diesem innenpolitischen Erfolg verfuhr Bismarck unbeirrt, wie hieraus weiter hervorgeht, auch in der Frage des budgetlosen Regiments wie bei der Knebelung der oppositionellen (liberalen) Presse, fast nach diktatorischem Schema, ohne Hausmacht und nur auf das Wohlwollen des preußischen Königs Wilhelm I. angewiesen.

Den Mittelpunkt der Biografie nehmen dann Bismarcks wichtigste Erfolgsmomente ein: die Kriege von 1864 (gegen Dänemark), 1866 (gegen Österreich) und 1870/71 (gegen Frankreich) im Kapitel "Reichsgründung von oben (1862-1871)". Hieraus wird deutlich, dass Bismarcks Größe unter anderem aus seiner Urteilsfähigkeit resultierte, inwieweit aus jeder Situation größtmöglicher Nutzen, vor allem für Preußen zu Gunsten von dessen Vormachtstellung im Reich, zu ziehen, wann aber andererseits vor zu großen Ausschreitungen Halt zu machen sei, um das Gleichgewicht der Mächte in Europa nicht zu beeinträchtigen, um gegnerische Kräfte nicht derart gegen sich aufzubringen, dass das bis 1871 Erreichte möglicherweise wieder in Gefahr geraten könnte. Mäßigung, auch im Erfolg, das gehörte, wie der Verfasser hervorhebt, stets zu Bismarcks wichtigen Zielen, vor allem 1866, ebenso wie der Ausbau seiner Machtposition, nach 1866 nicht mehr nur als Ministerpräsident, sondern auch als Bundeskanzler und ab 1871 als Reichskanzler in Personalunion mit dem Amt als Minister des Auswärtigen seit 1862, außerdem als hervorragender Konstrukteur einer ausgeklügelten Bündnispolitik, so im Kapitel über die "Außenpolitik von 1871 bis 1890".

Angreifbar wird Bismarck dagegen seit 1871 im innenpolitischen Bereich, wie der Verfasser im Abschnitt "'Cauchemar des révolutions' - Bollwerkspolitik und Stigmatisierung von 'Reichsfeinden' als Leitbilder der Innenpolitik (1871-1890)" unterstreicht. Vor allem in der Kirchenpolitik (Kulturkampf) und in der Sozialpolitik hatte Bismarck mit ständigen Querelen zu rechnen. Eine besondere Würdigung des "Alten vom Sachsenwald (1890-1898)" rundet diese in sich schlüssige Biografie ab. Deutlich werden darin nochmals Bismarcks Parolen vom "Maßhalten nach außen, von der Selbstbeschränkung als Großmacht inmitten des imperialistischen Wettlaufs der Mächte um globalen Prestigegewinn, jener Verzicht auf martialische und weltpolitische Muskelspiele, den der Kanzler immer wieder weitsichtig und voll düsterer Ahnung anmahnte" (284 f.).

Wenngleich hier keine ausführlichen und manche Fragen bis ins einzelne Detail (zum Beispiel Bismarcks Charakter) behandelnden Passagen, wie bei den oft mehrbändigen Werken von Erich Eyck, Ernst Engelberg, Otto Pflanze und anderen zu finden sind, so ist die Biografie von Rainer F. Schmidt dennoch gründlich angelegt und beantwortet manche in anderen Werken noch offen gebliebene Fragen. Der Verfasser geht zwar nicht von einer breiten archivalischen Basis aus, verwendet auch weniger ungedruckte als vielmehr gedruckte Quellen, darunter die von Gustav Adolf Rein herausgegebenen achtbändigen "Werke in Auswahl" (1962-1980), die Friedrichsruher Ausgabe sowie gedruckte Erinnerungen von Bismarcks Zeitgenossen, darunter Lucius von Ballhausen, und ein breites Spektrum an Literatur, was in diesem Fall aber völlig ausreicht, da es sich um ein Buch für ein breites, an der Geschichte des 19. Jahrhunderts interessiertes Publikum handelt.

Darüber hinaus eignet sich dieses Werk vorzüglich als Einstiegslektüre für Geschichtsstudenten der Anfangssemester, zumal hier viele Aspekte ausführlicher und im Kontext verständlicher behandelt werden als vergleichsweise bei den anderen neueren Erscheinungen von Volker Ullrich, Theo Schwarzmüller, Johannes Willms oder Christian Graf von Krockow. Aufgelockert wird das Buch durch Bildmaterial, wobei leider die Karikaturen überwiegen, obgleich es gerade zu Bismarck sehr aufschlussreiche Bildquellen gibt, die sich in den historischen Kontext gut einordnen ließen, darunter Szenen aus den drei Kriegen, hervorragende Lenbach-Portraits oder Gemälde von Anton von Werner beziehungsweise Fotografien aus Bismarcks letzten Lebensabschnitten. Dem Verfasser ist es insgesamt gelungen, in übersichtlicher Weise das Bismarckbild unserer Zeit abzurunden und zu entschärfen, sodass auch in Zukunft eine etwas relativiertere Bismarckbeurteilung möglich wird, die sich von der Hagiografie des beginnenden 20. Jahrhunderts ebenso abhebt wie von der vorurteilsbelasteten Bismarckkritik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Denn Bismarck wurde, so der Verfasser abschließend, gern für die unglücklichen Momente des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht, jedoch zu Unrecht, denn er war ja nicht mehr der Lotse des Schiffs der Deutschen, das in den Stürmen des 20. Jahrhunderts unterging.

Helma Brunck