Rezension über:

Wilm Hosenfeld: "Ich versuche jeden zu retten". Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Thomas Vogel, München: DVA 2004, 1194 S., 29 Abb., 3 Karten, ISBN 978-3-421-05776-1, EUR 32,00
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Rezension von:
Bernard Wiaderny
Berlin / Frankfurt/O.
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Bernard Wiaderny: Rezension von: Wilm Hosenfeld: "Ich versuche jeden zu retten". Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Thomas Vogel, München: DVA 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/7955.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Wilm Hosenfeld: "Ich versuche jeden zu retten"

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Die vorliegende Quellenedition beinhaltet den Nachlaß Wilm Hosenfelds, des deutschen Offiziers, der durch die Rettung Władysław Szpilmans im zerstörten Warschau im November 1944 berühmt geworden ist. Neben Briefen an die Familie, Erinnerungen, Tagebucheintragungen und Notizen aus den Jahren 1915-1952 umfasst sie für die Jahre der sowjetischen Gefangenschaft Hosenfelds (1945-1952) außerdem einige amtliche Quellen wie Vernehmungsprotokolle und Gerichtsurteile.

Freilich wäre es falsch, den Band nur unter dem Gesichtspunkt des oben erwähnten, punktuellen Ereignisses zu lesen. Dafür ist sein Inhalt zu vielschichtig, der sich meines Erachtens in zwei Schwerpunkten fassen lässt: erstens die Haltung Hosenfelds zur NS-Ideologie, die in den Quellen über die Jahre hinweg ein Leitthema bildet und auch von dem Herausgeber im Vorwort nuanciert besprochen wird, zweitens sein Umgang mit der Verfolgung der polnischen und jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement. Diese erlebte Hosenfeld während seiner Dienstjahre in Polen persönlich - zuerst in Pabianice bei Łódź, dann, zwischen Mitte 1940 und Januar 1945, in Warschau. Dabei erkannte er sehr schnell - schon im November 1939 (289) - den verbrecherischen Charakter der NS-Polenpolitik. Das Besondere an Hosenfeld war, dass er den Polen unaufhörlich geholfen und - trotz des amtlichen Verbotes - private Kontakte zu den Einheimischen gepflegt hat. Da beides aber keinerlei Nachteile nach sich zog, stellt sich - wie dies der Herausgeber des Bandes mit Recht betont (93) - die Frage nach dem individuellen Verhaltes- oder Handlungsspielraum, der auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur existierte. Darüber hinaus war Hosenfeld in der Lage, sich das nötige Wissen über Einzelheiten des NS-Terrors im Generalgouvernement zu verschaffen: er wusste von den Vernichtungslagern in Auschwitz und Treblinka, von der Vergasung der Opfer (607 und 654), von der Zwangsaussiedlung der polnischen und ukrainischen Bauern aus dem Bezirk von Zamość (686) und so weiter. Vieles davon gab er in seinen Briefen an die Familie weiter, trotz der dafür drohenden Strafen. Er reflektierte auch über die durch das NS-Verbrechen entstandene Schuld und bezog sie nicht nur auf die Täter, sondern auf die ganze deutsche Nation (641).

Während des Warschauer Aufstandes war Hosenfeld im Stab der dortigen Wehrmacht-Kommandantur tätig, wo er die Funktion des Dritten Generalstabsoffiziers (Ic-Offiziers) bekleidete. Er setzte sich für die Behandlung der gefangenen Aufständischen als Kriegsgefangene ein und versuchte sie nach seinen Möglichkeiten zu schonen. Stets gegenüber der NS-Polenpolitik kritisch eingestellt, bezeichnete er den Führerbefehl, wonach Warschau dem Boden gleichgemacht werden sollte, als "den Bankrott unserer Ostpolitik" und die vorgenommene Zerstörung der polnischen Hauptstadt als "das Abschlussdenkmal" dieser Politik (828).

Der Band ist mit umfangreichen Anmerkungen versehen, wobei das Bemühen des Herausgebers sichtbar ist, die polnischen Gegebenheiten einfühlsam zu behandeln. Trotzdem sind ihm diesbezüglich einige Fehler unterlaufen, beziehungsweise reagierte er nicht auf in den Quellen vorhandene Ungenauigkeiten. So kapitulierte Warschau nicht, wie behauptet wird (unter anderem auf Seite 40), am 27.09.1939 - an dem Tag wurde lediglich der Waffenstillstand vereinbart -, sondern einen Tag später; die auf sowjetischem Terrain ab Mai 1943 gebildete polnische Infanterie-Division bestand nicht aus Exilpolen (1124, Fußnote 244), sondern aus den ins Innere der Sowjetunion in den Jahren 1940-1941 deportierten Bewohnern Ostpolens; der sowjetische Angriff überschritt die polnische Vorkriegsgrenze nicht im Juli 1944 (95 und 1129, Fußnote 4), sondern in der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 1944 (in diesem Fall wurde sogar der richtige Vermerk Hosenfels vom 05.01.1944 falsch erläutert); die Bezeichnung "konservativ" in Bezug auf die Führungskader der Armia Krajowa (1155, Fußnote 209) geht an den Inhalten der damaligen Auseinandersetzung vorbei; die von Hosenfeld beschriebene öffentliche Erschießung der polnischen Geiseln in Warschau in der Piusstraße fand nicht am 18.10.1943 (760 f.), sondern einen Tag früher statt. Aus der Beschreibung Hosenfelds über die Zwangsumsiedlung der polnischen und ukrainischen Bevölkerung aus dem Bezirk Zamość geht hervor, dass er die damals in Warschau kursierenden Gerüchte für wahr hielt, wonach ein Zug mit verschleppten Kindern in der Hauptstadt angekommen sei (686).

Im Literaturverzeichnis fehlt das Standardwerk "1859 dni Warszawy" von Władysław Bartoszewski. Durch die Konsultation dieses Werkes hätten übrigens die zwei oben erwähnten Fehler vermieden werden können. Dagegen werden viele Arbeiten aufgeführt, die nicht zitiert werden, oder sogar solche, die mit dem eigentlichen Thema des Bandes wenig zu tun haben. Der im Literaturverzeichnis aufgelistete Historiker Gross (1178) heißt mit Vornamen korrekterweise Jan Tomasz. Ein Problem für sich bilden die polnischen Personen-, Orts- beziehungsweise Straßennamen. Sie wurden in vielen Fällen entweder durch Hosenfeld falsch - einfach phonetisch - angegeben und vom Herausgeber nicht korrigiert oder in Kommentaren fehlerhaft geschrieben (auf eine Aufzählung wird hier aus Platzgründen verzichtet).

Doch ändern diese Fehler nichts an der Tatsache, dass die Edition ein Ereignis auf dem Feld der deutsch-polnischen Beziehungen darstellt, was schon durch zahlreiche Rezensionen in den Medien beider Länder zum Ausdruck gekommen ist. Dem Herausgeber des Bandes gilt Anerkennung für die Erschließung dieser Quelle, den Umfang der geleisteten Arbeit und die Sorgfalt, mit welcher er diese Aufgabe erfüllt hat.

Bernard Wiaderny