Rezension über:

Dirk Steuernagel: Kult und Alltag in römischen Hafenstädten. Soziale Prozesse in archäologischer Perspektive (= Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge; Bd. 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 287 S., 26 Abb., 12 Tafeln, ISBN 978-3-515-08364-5, EUR 60,00
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Rezension von:
Dorothea Rohde
Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Dorothea Rohde: Rezension von: Dirk Steuernagel: Kult und Alltag in römischen Hafenstädten. Soziale Prozesse in archäologischer Perspektive, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/6807.html


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Dirk Steuernagel: Kult und Alltag in römischen Hafenstädten

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Vereine und Kulte im römischen Italien sind in letzter Zeit vermehrt zum Gegenstand archäologischer Untersuchungen gemacht worden. [1] Zu diesen zählt auch die von Dirk Steuernagel vorgelegte Arbeit, die sich mit der Religionsgeschichte von Puteoli, Ostia und Aquileia beschäftigt. Diese 2002 von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Main) angenommene und mit dem dortigen, seit 2000 jährlich verliehenen "Mediterran-Preis" ausgezeichnete Habilitationsschrift ging aus einer Studie über Puteoli hervor, die er im Rahmen des Forschungskollegs "Stadtkultur der römischen Kaiserzeit" anfertigte. Ergänzt werden die hier vorgebrachten Ergebnisse durch zwei Einzelstudien, welche als Aufsätze erschienen sind. [2]

Das für eine Habilitationsschrift vergleichsweise knapp gehaltene Werk untersucht urbanistische und soziale Aspekte von Kultorten in den drei bedeutendsten italischen Seehäfen von den Anfängen bis in die Spätantike. Im Vordergrund steht eine sozialhistorische Fragestellung, wobei Lage und Gestaltung der sakralen Stätten Aussagen über die gesellschaftliche Relevanz der Kulte und deren Anhänger ermöglichen sollen. Bei der Darstellung nimmt Ostia aufgrund des verhältnismäßig guten Erhaltungszustandes der Monumente, die eine Einbindung in ihren urbanistischen Kontext ermöglichen, den meisten Raum ein.

In der Einleitung (13-37) werden Fragestellung und Methode sowie die Forschungsgeschichte von Puteoli, Ostia und Aquileia erläutert. Steuernagel sieht seine Arbeit als eine "Community Study", der zwar nicht repräsentativer Charakter, jedoch eine exemplarische Funktion zukommt. Der Vergleich der Religionsgeschichten in den drei Städten soll auf die Repräsentativität der jeweiligen Zeugnisse schließen und die Lückenhaftigkeit des Materials kompensieren helfen.

Der Hauptteil setzt mit dem umfangreichsten Kapitel ein (38-154). Hier wird die bauliche Entwicklung der sakralen Topografie der jeweiligen Städte chronologisch verfolgt und verglichen. Bezeichnend ist die Randlage vieler Heiligtümer von Gottheiten östlicher Herkunft, während das Stadtzentrum den offiziellen Kulten vorbehalten blieb. Insgesamt lässt sich die Präsenz von Vereinen ab der mittleren Kaiserzeit feststellen. In Ostia setzte sich zudem, ausgelöst durch den Bau des zweiten, geschützteren Hafenbeckens und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Aufschwung, eine Umstrukturierung der Stadtlandschaft ein. Neben einer Vielzahl von Speicherbauten, Lagerhäusern und Thermen wurden nun vermehrt mehrstöckige und multifunktionale Gebäudekomplexe (insulae), die Wohnungen, Läden und Werkstätten unter einem Dach vereinten, gebaut.

Die Frage nach der Bedeutung und Funktion der Kulte von indigenen Göttern und römischen Staatsgöttern steht in dem Kapitel "Stadtgötter und lokale kultische Traditionen" (155-175) im Mittelpunkt. Leider lässt sich keine unmittelbare Kontinuität zu älteren Siedlungen feststellen, trotzdem ist eine extraurbane Lage bedeutender Heiligtümer und Kulte (Vulcanus in Ostia, Belenus in Aquileia) nachweisbar. Der rechtliche Status der Städte als römische Gemeinwesen fand seinen kultischen Ausdruck in der Übernahme der kapitolinischen Trias.

"Kultvereine und Vereinskulte", insbesondere die vielfältige Präsenz der Vereine im äußeren Erscheinungsbild der Städte, ist Gegenstand des dritten Kapitels (176-209). Vereinslokale (scholae) und Tempel (179-191) besaßen keinen einheitlichen Bautypus, wurden bevorzugt in den Zentren oder an wichtigen Verkehrsadern der Städte angesiedelt und besaßen zuweilen eine extrovertierte Architektur. Gemeinsame Grabstätten und Totenkult (191-197) sind verhältnismäßig selten von Vereinen sicher bezeugt. Als wichtigste Beispiele für die Nutzung öffentlicher Plätze und Gebäude (197-202) durch Vereine werden der Piazzale delle Corporazioni in Ostia und die Sottoscala-Räume des größeren Amphitheaters in Puteoli angeführt. Die dauerhafte Nutzung dieser öffentlichen Plätze für soziale Zwecke hatten sich die Vereine wohl durch die Finanzierung von Instandhaltungsarbeiten verdient. [3]

Das letzte Kapitel widmet sich fremden Kulten (210-257). Die weiteste Verbreitung erfuhren die ägyptischen Gottheiten, in deren Kultpraxis jedoch kein maßgeblicher Einfluss Ägyptens zu erkennen ist. Es handelt sich vielmehr - wie auch die Kulte der Mater Magna und anderer orientalischer Götter - um eine hellenistisch-römische Überformung durch die Anpassung an traditionelle Kultpraktiken und deren Symbolsprache. Der Einfluss von Migranten auf die Ausbreitung von Kulten ist insgesamt gering einzuschätzen.

Eine historische Wertung, in der die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Entwicklungen zusammengefasst und die Einflüsse gewichtet werden, die in der Religionsgeschichte der jeweiligen Städte zum Tragen kamen, wird im Schlussteil (258-265) vorgenommen. Es lässt sich feststellen, dass Vereine und die von ihnen praktizierten Kulte in der Kaiserzeit an Bedeutung gewannen, da die Masse der Bürger für große öffentliche Zeremonien nur passiv als Kulisse dienten und auch vertikale Sozialbindungen zu Gunsten von horizontalen an Einfluss verloren.

Nicht völlig überzeugen konnte die These Steuernagels, dass die Blüte des ostiensischen Vereinswesens bedingt ist durch die Multifunktionalität der insulae (109 und öfter). Für eine solche Annahme würde sprechen, dass die Insula-Bauweise nicht in allen drei Städten vertreten war, sondern sich nur in Ostia, wo auch das Vereinswesen besonders stark ausgeprägt war, durchsetzte. Zwar ist Steuernagel zuzustimmen, dass die sozialen Gegensätze in einer insula weniger stark ausgebildet waren als in der traditionellen domus. Doch sprechen für eine Gleichzeitigkeit der Phänomene und somit gegen die Annahme eines direkten kausalen Zusammenhangs von Bauweise und Vereinsgründung drei Argumente: (1) In allen drei untersuchten Städten lässt sich eine zeitgleiche Hochkonjunktur des Vereinswesens feststellen. (2) Aufgrund der unterschiedlichen Quellenlage können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das Vereinswesen in Ostia - abgesehen von Vereinen, die mit der Versorgung Roms in Zusammenhang stehen - tatsächlich stärker ausgeprägt war als anderswo. (3) Es lassen sich ebenso gegenteilige Tendenzen feststellen. Die Wahl von Vereins-Kultstätten innerhalb von insulae scheint daher aufgrund der Verfügbarkeit von Raum und den für den Erwerb nötigen finanziellen Mitteln getroffen worden zu sein.

Trotz dieser Einwände, die im Hinblick auf die gesamte Untersuchung nicht allzu schwer wiegen, kommt Steuernagel das Verdienst zu, das archäologische Material nicht nach Denkmalstypen oder Kulten getrennt untersucht, sondern im Hinblick auf eine übergeordnete sozialhistorische Fragestellung vergleichend ausgewertet zu haben. Seine Untersuchung ist daher richtungsweisend für die archäologische Beschäftigung mit gesellschaftlichen Prozessen, wovon alle Altertumswissenschaften, die sich mit der sozialen Dimension von Kult und Religion beschäftigen, profitieren können.


Anmerkungen:

[1] Beate Bollmann: Römische Vereinshäuser. Untersuchungen zu den Scholae der römischen Berufs-, Kult- und Augustalen-Kollegien in Italien, Mainz 1998; Ulrike Egelhaaf-Gaiser: Kulträume im römischen Alltag. Das Isisbuch des Apuleius und der Ort der Religion im kaiserzeitlichen Rom (= Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge; 2), Stuttgart 2000; Ulrike Egelhaaf-Gaiser / A. Schäfer (Hg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung, Tübingen 2002; Anna-Katharina Rieger: Heiligtümer in Ostia (= Studien zur antiken Stadt; 8), München 2004.

[2] Dirk Steuernagel: Corporate Identity. Über Vereins-, Stadt- und Staatskulte im kaiserzeitlichen Puteoli, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Rom 106 (1999), 149-187; ders.: Kult und Comunity. Sacella in den Insulae von Ostia, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Rom 108 (2001), 41-56.

[3] Damit wendet sich Steuernagel gegen die These eines kommerziellen Forums, die zurückgeht auf Rodolfo Lanciani: Ostia, Notizie degli scavi di antichità 1881, 109-120, besonders 115. Für eine solche Interpretation sprechen Mosaike, die Inschriften und Symbole von Vereinen aus Ostia und navicularii mit geografischen Epitheta zeigen. Zudem werden drei der in den Porticus nachträglich eingefügten Räume durch Mosaike als stationes bezeichnet, womit in Rom und Puteoli Niederlassungen auswärtiger Händler gemeint sind. Da viele der genannten Händler für die annona tätig waren, meinte man ein staatliches Interesse an einer topografischen Zusammenfassung dieser Vereine feststellen zu können. Ihm folgen unter anderem Gustav Hermansen: Ostia. Aspects of Roman City Life, Edmonton 1981, 84 f., sowie Raymond Chevallier: Ostie antique. Ville et port, Paris 1986, 129 f. Neuere Forschungen bewirken eine Modifikation dieser Interpretation, siehe beispielsweise Carlo Pavolini: La vita quotidiana a Ostia, Rom / Bari 1986, 84 f., sowie Beate Bollmann: Römische Vereinshäuser. Untersuchungen zu den Scholae der römischen Berufs-, Kult- und Augustalen-Kollegien in Italien, Mainz 1998, 299 f. Dafür spricht, dass Platz und Theater eine architektonische Einheit bilden (porticus post scaenam), die Trennwände erst nachträglich eingebaut wurden, die dadurch entstandenen Räume sehr klein sind, der Zugang zum Tiber bereits vor dem größten Teil der Mosaike verschlossen wurde, die Dedikationsinschriften teilweise nicht einzelnen Räumen zugeordnet werden können, Ehreninschriften von Dekurionen und nicht vom praefectus annonae bewilligt wurden.

Dorothea Rohde