Carol Dougherty / Leslie Kurke (eds.): The Cultures within Ancient Greek Culture. Contact, Conflict, Collaboration, Cambridge: Cambridge University Press 2003, XVII + 289 S., ISBN 978-0-521-81566-6, GBP 50,00
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Erst in jüngster Vergangenheit verzeichnet der Kulturbegriff als heuristische Kategorie wieder einen immensen Bedeutungsgewinn, nicht zuletzt deshalb, weil mit dem Ende des Kalten Krieges deutlich wurde, dass sich Wahrnehmungen von Gemeinsamkeit oder Unterschiedlichkeit keineswegs klar politischen Systemen zuordnen lassen, sondern aus einer Fülle kultureller Faktoren gespeist werden. [1] Als Problem für die Anwendbarkeit des Kulturbegriffs erweist sich neben dessen mangelnder Eindeutigkeit aber auch die Gefahr, bei seiner Verwendung unangemessen zu vereinfachen, etwa kulturelle Kohärenzen da anzunehmen, wo tatsächlich Verschiedenheit besteht. [2] Genau hier setzt der von Carol Dougherty und Leslie Kurke herausgegebene Sammelband an, welcher im Wesentlichen die Ergebnisse eines am Wellesley College im November 2000 veranstalteten Kolloquiums veröffentlicht.
Das besondere Anliegen des Buches beschreiben die Herausgeberinnen in einer Abgrenzung gegenüber bisherigen Wahrnehmungen von Griechenland als einem Paradeigma für Modelle kultureller Einheitlichkeit. Beide plädieren hingegen dafür, die griechische Kultur verstärkt als Vielzahl durchaus heterogener Subkulturen zu konzeptualisieren, die untereinander in Kontakt standen. Und erst als Resultat des kooperativen beziehungsweise konfliktiven Zusammenwirkens dieser Subkulturen sei das entstanden, was in der Moderne unter dem Begriff des Griechentums subsumiert werde. Diese veränderte Herangehensweise führt zu analytischen Konsequenzen, welche Dougherty und Kurke im Vorwort präzise beschreiben, wobei sie allerdings die Erträge der bisherigen intensiven Forschungsdiskussion nicht hinreichend würdigen. [3]
So geht es ihnen erstens um eine präzisere Bestimmung der Quellen, der Mechanismen und der Resultate des kulturellen Austauschs zwischen Griechen und Nichtgriechen, aber auch zwischen den verschiedenen griechischen Subkulturen. Das Interesse gilt nicht, wie noch in der Frühzeit des New Historicism, vor allem Texten, sondern allen Zeugnissen, welche Rückschlüsse auf Praktiken und Verhaltensformen der Alltagskultur gewähren können. Dabei sind gerade auch Schichten unterhalb der Elite beziehungsweise marginalisierte Kulturen von Bedeutung. Ein zweiter wesentlicher Punkt besteht darin, dass die bisherige Analyseperspektive der äußeren Kulturzuschreibung um eine stärkere Berücksichtigung der Innenperspektive, also der Eigenwahrnehmung der betreffenden kulturellen Gruppe ergänzt wird. Hierdurch lassen sich dann auch Aussagen zu Intentionen kultureller Einflussnahmen oder Entscheidungen treffen, da derartige Interaktionen nahezu immer mit dem Austrag von Machtkonflikten oder Konkurrenz verbunden sind. Der Sinn dieses Zugriffs liegt also in einer feinmaschigeren Analyseperspektive.
Jonathan Hall führt als erster Autor des Bandes diesen Anspruch mit konzeptionellen Überlegungen weiter. Er tritt dafür ein, Kulturen verstärkt in ihrer Bestreitbarkeit und Störanfälligkeit wahrzunehmen, vor allem aber genauer zu bestimmen, wie die Mitglieder eines gemeinsamen Symbolsystems selbst ihre Gruppengrenzen zogen. So vermag er zu zeigen, dass in Griechenland zwar sozial konnotierte Symbolsysteme im Sinne einer gemeinsamen Eliten- beziehungsweise Mittelschichtenkultur eine lange Tradition besitzen, die Grenzen für eine gemeinsame ethnische Wahrnehmung als Hellenes jedoch lange Zeit deutlich enger gezogen waren. Genealogische Konstruktionen und olympische Siegerlisten belegen, dass noch im sechsten Jahrhundert lediglich Aioler, Dorer, Ionier und Achaier unter dieser Kategorie subsumiert wurden und sich der Kreis erst im fünften Jahrhundert entscheidend erweiterte.
Doch von welcher Art waren die kulturellen Austauschbeziehungen zwischen Griechen und Nichtgriechen? Dieser Frage widmet sich der erste Themenbereich des Buches am Beispiel Unteritaliens. Carol Dougherty vermittelt anhand des so genannten Aristhonotos-Kraters aus dem 7. Jahrhundert einen Eindruck davon, wie komplex, ja widersprüchlich die Kontakte tatsächlich waren. Einerseits symbolisiert dieser eindrucksvoll das fruchtbare Zusammenleben zwischen Etruskern und Griechen, wurde er doch in Etrurien von einem griechischen Töpfer hergestellt. Dass die Beziehungen beider Gruppen jedoch auch oft konfliktiv verliefen, zeigt die Ikonografie des Gefäßes, welches eine zeitgenössische Seeschlacht zwischen Griechen und Nichtgriechen vor den mythischen Hintergrund der Polyphemepisode stellt.
Carla Antonaccio plädiert in ihrem Beitrag dafür, die unterschiedlichen Stile von Artefakten im Griechenland des 6. und 5. Jahrhundert, vor allem die auffallende Hybridität von materiellen Überresten im griechischen Süditalien, verstärkt in Beziehung zu regional verschiedenen Bedingungen, wie der jeweiligen ethnischen Gemengelage, zu setzen. Dieser Ansatz ist durchaus plausibel, doch macht ihr etwas heterogen strukturierter Artikel auch die engen Quellengrenzen für eine derartige These deutlich. So betreffen von Antonaccio angeführten Schriftzeugnisse, die zum Beispiel Veränderungen im Bekleidungsstil tatsächlich auf gezielte Entscheidungen zurückführen, leider nicht den unteritalischen Bereich. Deshalb bleiben auffallende materielle Befunde dort, etwa der hohe Anteil von Keramikexporten aus dem griechischen Mutterland in syrakusanischen Gräbern, hinsichtlich der Motivfrage weitgehend dunkel.
Mit Delphi berührt auch der zweite Themenbereich einen Ort eher am geografischen Rand der griechischen Welt, der jedoch einzigartige kultische wie politische Bedeutung besaß und sich deshalb zu einer der kommunikativen Schnittstellen Griechenlands entwickelte. Aus diesem Grund, so verdeutlichen die drei Artikel dieses Teils eindrucksvoll, werden hier nicht nur Repräsentationswünsche öffentlich sichtbar, sondern auch virulente soziale Spannungen sowie politische Ausgleichsstrategien, welche die Identität mancher Polis bestimmten. Leslie Kurke befasst sich mit narrativen Strategien in der Vita des Aesop, welche ihren Helden als mutigen Herausforderer des Apollon und seiner Ansprüche auf bevorzugte Deutungsmacht der Intentionen des Zeus präsentieren. Sie deutet diese Erzählweise überzeugend als Kritik nichtaristokratischer Schichten an der elitär orientierten Orakelzugangspraxis, welche durch die delphischen Apollonpriester in jener Zeit verfolgt wurde.
Das Interesse Nigel Nicholsons gilt der Frage, warum die delphischen Weihungen von aristokratischen Siegern in Wagenrennen auf eine Abbildung der eigentlich entscheidenden Wagenlenker stets verzichteten. Nicholson gelingt der Nachweis, dass der Einsatz gemieteter Wagenlenker gesamtgriechisch eine immense Herausforderung für die aristokratische Siegesideologie darstellte. Diese bestand sowohl in der siegentscheidenden Abhängigkeit von Statusniederen, welche in der Bezahlung ihren Ausdruck fand, als auch in der potenziellen Aufwertung der Bedeutung des Wagenlenkers. Der Verzicht auf die öffentliche Darstellung von dessen Verdiensten sicherte die Kontrolle der Aristokraten über ihre Ideologie des Wagenrennens.
Richard Neer wendet sich der eigenartig heterogenen Bildsprache des Schatzhauses von Siphnos zu, welche zwar den aristokratisch konnotierten epischen Kampf zwischen Achilles und Memnon problemlos mit einer Markttypologie der Polis kombiniert, in einer anderen Darstellung aber die Kampfweise aristokratischer Streitwagen überdeutlich von negativ konnotierten Hoplitenkämpfern absetzt. Neer deutet diese Ambivalenz höchst plausibel vor dem Hintergrund literarischer Quellen. Diese zeichnen Siphnos als Insel, in welcher Aristokraten zwar einerseits finanzielle Überschüsse bereitwillig an Bürger verteilten, andererseits aber Ansätze zu einer zentralen Verteidigungsorganisation der Stadt auf Basis der Phalanx zu Gunsten der Beibehaltung eines traditionellen Militärethos längere Zeit erfolgreich zu blockieren vermochten.
Im Fokus des dritten Themenbereichs steht das demokratische Athen, und damit eines der politischen Zentren Griechenlands. Gegenüber bisherigen Forschungstendenzen, welche mehrheitlich, wenn auch nicht ausschließlich, die prägende Wirkmächtigkeit der demokratischen Mehrheitskultur Athens betonten, verdeutlichen die drei Autoren, dass es durchaus Bemühungen aristokratischer Kreise gab, sich diesen allumfassenden Ansprüchen zu entziehen. So untersucht Richard P. Martin die Motive für aristokratische Negativurteile zur Flötenmusik. Tatsächlich entstammt dieser Negativdiskurs erst der Mitte des 5. Jahrhunderts, ist also engstens mit der Herausbildung der Demokratie verknüpft. Martin belegt, dass die Abwertung des Aulos, wie auch immer sie begründet war, einem Instrument galt, welches den Rhythmus des bürgerlichen Lebens in Krieg, Tanz wie körperlicher Übung begleitete, leitete und zäsurierte. Der Aulos wurde damit, ebenso wie die demagogische Rhetorik, zu einem Symbol der Verführungskraft der Demokratie, welche aristokratische Machtansprüche unmittelbar bedrohte. Peter Wilson gelingt in einer faszinierenden Analyse der Umdeutung des Dichters Anakreon durch den Oligarchen Kritias sogar der Nachweis, dass das Feld der Musik einen genuinen Bestandteil seines ideologisch-kulturellen Gegenentwurfs zur athenischen Demokratie bildete. Ein klares Indiz für die Fruchtbarkeit des kulturellen Deutungsmusters ist hierbei der durch beide Autoren erbrachte Nachweis, dass Musik innerhalb dieses gesellschaftlichen Machtdiskurses zum Träger eines komplexen Symbolsystems wurde.
Der Beitrag von Katarzyna Hagemajer Allen befasst sich mit der Aufnahme persisch inspirierter Architekturelemente in athenische Privatgrabmäler des 4. Jahrhunderts. Sie zeigt, dass das berühmte Grabmal des Nikeratos und seines Sohnes Polyxenos hierbei keineswegs einen Einzelfall darstellt, sondern dass die Einbeziehung persischer Elemente, vor allem ab jener Zeit, ein beliebtes Mittel für die Betonung von Statusdifferenzen wird. Allerdings trifft ihre These, dass sich der Einfluss persischer Kulturformen nur anhand materieller Quellen ablesen ließe, während schriftliche Quellen das Paradeigma der reinen griechischen Lebensweise pflegten, so allgemein nicht zu. Die Attraktivität persischer Lebensformen findet durchaus auch in schriftlichen Quellen Erwähnung, nur eben nicht in normativen Quellen wie der hier zitierten Passage aus den Hellenika Xenophons. Auf jeden Fall zeigt auch dieser Artikel, dass die Kultur des demokratischen Athen keineswegs homogen war.
Abschließend erörtert Josiah Ober das Problem, wie kulturelle Verschiedenheit und der Wunsch nach politischer Kohärenz in den griechischen Poleis miteinander vereinbart werden konnten. So wirft er auch die Frage auf, welches Recht eine Gruppe der jeweiligen kulturellen Mehrheit oder Minderheit auf eine Durchsetzung ihrer Ansprüche besaß. Ober lässt keinen Zweifel daran, dass die Balance zwischen kultureller Verschiedenheit und nationaler Einheit in den jeweiligen politischen Gemeinschaften oft höchst prekär war. Dennoch sieht er demokratische Ordnungen wegen ihrer insgesamt flexibleren Form, kulturelle Verschiedenheit in gewissen Grenzen zuzulassen und politisch zu bewältigen, eindeutig im Vorteil. Insgesamt ist ein Sammelband entstanden, der eine Fülle höchst interessanter Beiträge birgt. Zu seinen Vorzügen zählt auch, dass in den drei Teilbereichen die jeweilige Fragestellung anhand eines gemeinsamen regionalen Schwerpunkts behandelt wird, was erste Vernetzungsperspektiven erkennbar werden lässt. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Band die Diskussion zu den Problemen von Kulturgeschichte und Kulturtransfer in mehrfacher Hinsicht befruchten wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu den Überblick bei P. Burke: Varieties of Cultural History, Cambridge 1997, besonders 184-191. Auch Dougherty und Kurke reihen sich hier bereits mit einem früheren Sammelband ein: C. Dougherty / L. Kurke (Hgg.): Cultural Poetics of Archaic Greece, Cambridge 1993.
[2] So haben etwa Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn in einer Studie 164 Definitionen von "Kultur" zusammengestellt; A.L. Kroeber / C. Kluckhohn: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1963, 81-142; 291 f. Prägnante methodische Überlegungen zur Verwendung des Kulturbegriffs bietet U. Gotter: "Akkulturation" als Methodenproblem der historischen Wissenschaften, in: W. Eßbach (Hg.): Wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode (= Identität und Alterität; Bd. 2), Würzburg 2000, 373-406.
[3] Dougherty und Kurke grenzen sich hier von methodischen Defiziten der Ansätze von Martin Bernal, Walter Burkert sowie Martin West ab, benennen hingegen das kulturanthropologische Buch von Paul Gilroy, Black Atlantic, Cambridge, Mass. 1993 als Referenzgröße. Tatsächlich aber, dies verdeutlichen auch die folgenden Beiträge dieses Bandes, existiert bereits eine längere Diskussion um den Begriff der Akkulturation,. Diese wurde wesentlich angeregt durch einen von R. Redfield, R. Linton und M.J. Herskovits aufgestellten Fragenkatalog zur Untersuchung von Kulturbegegnungen; R. Redfield / R. Linton / M.J. Herskovits: Memorandum for the study of Acculturation, in: American Anthropologist 38 (1936), 149-152; vgl. hierzu neben M. Espagne / M. Werner (Hgg.): Transferts culturels. Les relations interculturelles dans l'espace franco-allemand (XVIII-XX siècles), Paris 1988 auch Gotter (wie Anm. 2), 384 ff. mit weiterer Literatur.
Claudia Tiersch