Rezension über:

Richard Sigurdson: Jacob Burckhardt's Social and Political Thought, Toronto: University of Toronto Press 2004, XII + 279 S., ISBN 978-0-8020-4780-9, GBP 32,00
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Rezension von:
Philipp Müller
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Müller: Rezension von: Richard Sigurdson: Jacob Burckhardt's Social and Political Thought, Toronto: University of Toronto Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/03/7300.html


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Richard Sigurdson: Jacob Burckhardt's Social and Political Thought

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Eingangs seiner Darstellung erklärt der Politikwissenschaftler Richard Sigurdson, nicht einen eigenständigen Beitrag im engeren Sinne, sondern eine Einführung in Burckhardts Denken für ein größeres akademisches Publikum bieten zu wollen. Seinen Akzent legt er dabei auf die Geschichte der sozialen und politischen Ideen. In den vergangenen Jahren hat die Forschung in kontinuierlicher Arbeit eine Reihe von Sujets zu Jacob Burckhardt mit dazugehörigem Zitathaushalt entwickelt, die nun von Sigurdson in kondensierter Form vorgebracht werden. Er nimmt vor allem Deutungsversuche aus neueren amerikanischen Untersuchungen zu Burckhardts intellektueller Biografie auf und versucht, sie mittels einer zweiteiligen Anordnung zusammenzubinden. Der erste Teil behandelt Überlegungen zu der Entstehung von Burckhardts Kulturgeschichte, im zweiten geht es um Konnotationen seines sozialen und politischen Denkens. Burckhardts Wertschätzung Raffaels oder seine Hinweise auf das antike Ideal der Sophrosyne sind zumeist bekannt; statt sie zu rekapitulieren, sei hier auf drei mit einigen Forschungstopoi verbundene Unstimmigkeiten aufmerksam gemacht.

Sigurdson versteht die Entstehung von Burckhardts Kulturgeschichte als Reaktion gegen die Tendenzen der Liberalisierung und Rationalisierung in der Moderne. Burckhardts Geschichtsschreibung über das antike Athen oder das Florenz der Renaissance liefere Bilder einer kulturellen Identität des Menschen, die er gegen die disparate Verfasstheit seiner Gegenwart habe rekonstruieren wollen. Eine solche kulturelle Identität sei von Burckhardt in der Anwendung ästhetischer Kriterien mit moralischen Implikationen entworfen worden; sie sollten auf dem Gedanken eines einheitlichen, harmonischen Lebensstils beruhen. Burckhardts Darstellung des Italien der Renaissance oder der griechischen Antike zeige deshalb "an aesthetic re-creation of historical images of whole, healthy, and spontaneous forms of cultural existence" (127). Burckhardts Beschreibung der Kultur des Renaissancemenschen klingt anders: "Wenn nun die Selbstsucht im weiten wie im engsten Sinne Wurzel und Hauptstamm alles Bösen ist, so wäre schon deshalb der entwickelte Italiener damals dem Bösen näher gewesen als anderen Völker." [1] Wie lässt sich Burckhardts Insistieren auf der Nachtseite der Renaissance in die Vorstellung integrieren, hier seien harmonische Kontrastbilder zur Disharmonie in der Moderne geschildert? Sigurdson erwähnt an anderer Stelle diese Aspekte in Burckhardts Darstellung durchaus, zu einer Problematisierung seiner vorher aufgestellten These gelangt er deshalb nicht.

Die ideengeschichtlichen Ursprünge von Burckhardts modernitätskritischen Gegenbildern der Kulturgeschichte werden - ebenfalls im Einklang mit einer Reihe jüngerer und älterer Untersuchungen - in der Tradition der Goethezeit gesucht. Neben Schlegel, Schiller und Goethe selbst nennt Sigurdson wiederholt auch Wilhelm von Humboldt einen von Burckhardts geistigen Vätern. Von ihm habe Burckhardt sein Konzept der Bildung zur freien Individualität übernommen und darin zugleich, wie Humboldt, ein gegen die Allmacht moderner Staatlichkeit gerichtetes Ideal erkannt (167). Sigurdson führt keine unmittelbaren Belege an; es existieren jedoch zwei nahezu gleich lautende Bezüge Burckhardts auf Humboldt, in denen er einen seiner Grundsätze vorbringt. Sie weisen Humboldt allerdings nicht als Vorbild seiner wissenschaftlichen Arbeit aus, sondern als täglichen Ratgeber, um damit rechtzeitig aufzuhören: "Wilhelm von Humboldt als er vom Amte kam, fragte ganz zufrieden: muß man denn vom Actentisch in's Grab taumeln?" [2] Angesichts des Umstandes, dass ein darüber hinausgehender Zusammenhang zwischen Humboldt und Burckhardt nicht gesichert ist, macht der Rekurs auf den klassischen Humanismus und Texte, die ein halbes Jahrhundert vor Burckhardts wichtigsten Werken verfasst sind, ratlos. Für eines der zentralen Argumente, Burckhardt habe ein begriffsgelenktes Verstehen in kulturgeschichtlichen und politischen Fragen abgelehnt, ließen sich auch in seiner Gegenwart Anhaltspunkte ausfindig machen. [3] Ein Teil der Forschung scheint Burckhardts Denken stattdessen in einem starken Sinn als unzeitgemäß herausstellen zu wollen.

Eine weitere bekannte, auch vom Autor verfochtene These besagt, Burckhardt habe in seiner eigenen Zeit eine zunehmende Geschichtsvergessenheit als Ausdruck wachsender Kulturlosigkeit beklagt. Nachdem die französischen Revolutionäre und ihre nachgeborenen Adepten die Verbindung zur Vergangenheit abgeschnitten hätten, sei es Burckhardt um die Wiederaufrichtung historischer Kontinuitäten mittels des Studiums der Geschichte gegangen (177). Wenn dies Burckhardts Programm war, erscheint die Themenwahl seines Hauptwerks und die darin enthaltene wissenschaftliche Innovation als ein Missgriff. Burckhardt vertritt die Überzeugung, in der Renaissance sei nicht eine Wiederauferstehung der Antike zu beobachten, sondern das Erwachen des modernen italienischen Geistes und seine eigenständige Aneignung neuer Ausdrucksmittel. [4] Der Kern seiner Renaissancegeschichte beruht auf der Annahme eines umfassenden Traditionsbruchs. Wie ist dieser Befund mit der These zu vermitteln, Burckhardt ziele auf die Herstellung von geschichtlicher Kontinuität in der historischen Erinnerung? Die Frage hat sich bereits Sigurdsons Gewährsmännern in der Sache nicht gestellt.

Sigurdsons Ausführungen enthalten Ungenauigkeiten, von denen zumindest eine in aller Kürze erwähnt werden muss. Das in einem Kapitel gezeichnete Bild Leopolds von Ranke kann nur eine Karikatur genannt werden: Ranke sei ein Positivist gewesen, der die Orientierung der historistischen Geschichtsschreibung auf die moderne Staatsmacht und ihren Primat der Außenpolitik begründet habe. Die ausgezeichnete Studie von Leonard Krieger, in der eine solche Charakterisierung nachhaltig widerlegt worden ist, führt Sigurdson ein einziges Mal an: nämlich um Rankes Diktum "wie es eigentlich gewesen" nachzuweisen.

Trotz aller Vorbehalte ist das Grundanliegen Sigurdsons richtig: Er will zeigen, dass Burckhardts Geschichtsschreibung eine historische Interpretation der eigenen Zeit unternimmt, und er beharrt darauf, dass dieser Gegenwartsbezug unter politischen Vorzeichen entsteht. Ein solches Verständnis setzt voraus, dass man die traditionelle Vorstellung einer strikten Trennung von Kunst und Politik aufgibt und politische Ideen in ästhetischen Ausprägungen zu analysieren beginnt. Genau hier liegt auch die gegenüber manchem Vorgänger veränderte, fruchtbare Blickrichtung dieser Untersuchung: "Burckhardts cultural approach adds a unique dimension to modern political theory" (222). Sigurdson schlägt ein Kapitel der problematischen Begründung des modernen Staates im 19. Jahrhundert auf, indem er die individuelle Auffassung in Opposition zur nationalstaatlichen Auffassung anführt. Der moderne Rechtsstaat setzt die Existenz autonomer, entscheidungsfähiger Bürger voraus, konzipiert ihre Partizipation jedoch in der Realität als Verwirklichung kollektiver Maßstäbe einer sittlich-nationalen Einheit. Burckhardts Entwurf des ästhetischen Vermögens als Ausbildung subjektiver Autonomie lässt sich durchaus in Beziehung zu einer modernen politischen Individualität setzen, wie Sigurdson dies stellenweise anvisiert (168 ff.). Zugleich zweifelt er daran, ob von Burckhardt damit tatsächlich eine Alternative zu politiktheoretischen Grundfragen der Zeit ausformuliert worden ist (177 und 196). In diesen Passagen erhält man den Eindruck, dass Sigurdson seine Chancen eines politikwissenschaftlichen Beitrags hätte ausspielen sollen, statt sich auf den Versuch einer Einführung einzulassen, die zu sehr in den Widersprüchen der überkommenen Burckhardt-Forschung befangen bleibt. In der vorliegenden Form erfordern seine Argumente ein gehöriges Maß an Lese-Energie, die nur in Ansätzen belohnt wird.


Anmerkungen:

[1] Jacob Burckhardt: Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (= Gesammelte Werke; Bd. 3), Basel / Stuttgart 1978, 310.

[2] Jacob Burckhardt: An Friedrich Preen Weihnachten 1885, in: ders.: Briefe. Vollständige und kritische Ausgabe. Mit Benützung des handschriftlichen Nachlasses bearbeitet von Max Burckhardt, Bd. 8, Basel 1974, 315.

[3] Vgl. u.a. Helmut Widhammer, Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 1848-1860, Tübingen 1972.

[4] "Die bisher geschilderten Zustände würden die Nation erschüttert und gereift haben auch ohne das Altertum, und auch von den nachher aufzuzählenden neuen geistigen Richtungen, wäre wohl das meiste ohne dasselbe denkbar"; Burckhardt: Kultur der Renaissance, 116 (s. Anm. 1).

Philipp Müller