Horst Carl / Hans-Henning Kortüm / Dieter Langewiesche u.a. (Hgg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin: Akademie Verlag 2004, X + 471 S., ISBN 978-3-05-004015-8, EUR 49,80
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Was sind die sozialen Folgen von Kriegsniederlagen? Bieten sie, wie es Reinhart Koselleck formuliert hat, Chancen für produktive Reflexionsprozesse? Ist ihnen durch "aufgenötigte Erfahrungsgewinne" ein besonderes Veränderungspotenzial in Bezug auf kulturelle Strukturen eigen (1 f.)? Diese einleitend formulierten Leitfragen der Herausgeber ordnen den vorliegenden Band direkt in eine Gesellschaftsgeschichte des Krieges ein. Wie die neueren Arbeiten über "militärische Helden" versteht er sich als Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Krieges (4). Ausgehend von den Kategorien "Erfahrung" und "Erinnerung" stehen Prozesse sozialer Realitätsaneignung und deren Umformung in Erinnerung im Zentrum (5). Welche sozialen Bewältigungsstrategien lassen sich historisch ermitteln? Verändern Niederlagen bestehende Geschichtsbilder (auch Kriegsbilder), Wertstrukturen und Ordnungsvorstellungen oder stabilisieren sie diese vielmehr? Welche Rolle spielen soziale Auseinandersetzungen, die Deutung und Erinnerung als "konkurrierendes Erfahrungswissen" (6) konstituieren?
So knapp und schnörkellos wie die programmatische Einführung, so breit ist die nachfolgende Umsetzung, in der Ergebnisse gleich dreier großer Forschungsverbünde gebündelt sind: der Sonderforschungsbereiche "Kriegserfahrungen" (Tübingen) und "Erinnerungskulturen" (Gießen) sowie der Regensburger Forschergruppe "Krieg im Mittelalter". Entsprechend groß ist der zeitliche und thematische Rahmen der insgesamt 24 im Band enthaltenen Aufsätze. Zeitlich reicht er von der mittelalterlichen Geschichtsschreibung (Edith Feistner / Michael Neecke) bis zum Diskurs um territoriale Verluste in Deutschland 1918-1970 (Vanessa Conze). Analysiert wird die "Realitätsaneignung" sehr unterschiedlicher sozialer Gruppen: Die Erinnerung des Hauses Habsburg an die Niederlage von Sempach 1386 wird ebenso zum Gegenstand eines Beitrages (Steffen Krieb) wie das Totengedenken deutscher und britischer Studenten nach dem Ersten Weltkrieg (Sonja Levsen). Die einzelnen Untersuchungen sind in fünf Themenbereiche geordnet. "Historiographische und literarische Verarbeitungen" bilden den ersten Komplex, "Lernprozesse und politische Instrumentalisierungen" stehen im Zentrum des zweiten Abschnittes. Die Abschnitte drei und vier konzentrieren sich auf "Religiöse Deutungsmuster" sowie "Diskurse um Geschlecht und Ehre", den Abschluss bilden "Mediale Verarbeitungen". Diese Ordnung wird nicht systematisch begründet und wirkt als Gliederungsprinzip nicht immer stringent. Instrumentalisierungen beispielsweise spielen fast in jedem Beitrag des Bandes eine gewichtige Rolle. Darüber hinaus ließe sich fragen, ob "literarische Verarbeitungen" etwas strukturell anderes sind als "mediale Verarbeitungen".
Wichtiger als die Frage der Gliederung ist aber die nach dem inhaltlichen Ertrag. Und hier liefert der Band deutlich mehr als 24 Einzelstudien auf durchgängig hohem methodischem Niveau. Denn in der Gesamtsicht kristallisieren sich in Bezug auf die Leitfragen Linien heraus, die zur übergreifenden Thesenbildung geradezu einladen. Dies gilt zunächst für Form und Struktur möglicher Bewältigungsstrategien, die gleich eingangs im Beitrag von Edith Feistner und Michael Neecke systematisiert werden (17-20): Weniger Verdrängen und Vergessen als historische Relativierung und sinnstiftende Umdeutung durchziehen den Umgang mit Niederlagen. Wie anhand zahlreicher Fallbeispiele nachgezeichnet, finden sich Vorstellungen von "Prüfung", religiöse oder säkularisierte Erlösungshoffnungen und nicht zuletzt Heroisierungen in der Krisenbewältigung aller betrachteten Epochen: in literarischen Darstellungen der Niederlagen von Ronceval und Montauban im 15./16. Jahrhundert (Mathias Herweg, 27 f.) ebenso wie in der Erinnerung an die geschlagene polnische Heimatarmee (Bernhard Chiari, 202). Wie dieser Prozess der (Um-)Deutung verläuft, wird jeweils präzise nachgezeichnet und dessen soziale Umstrittenheit steht im Zentrum gleich mehrerer Beiträge: so in Nikolaus Buschmanns Analyse der österreichischen Verarbeitung der Niederlage von Königgrätz (140 f.), in der Darstellung des gesellschaftlichen Diskurses um die Invaliden des Ersten Weltkrieges (Sabine Kienitz, 334) oder in Dieter Langewiesches Beitrag zur deutschen Sonderwegsthese (59).
Auch die sozialen Funktionen der Krisenbewältigung nach Niederlagen weisen stets wiederkehrende Muster auf. Wie schon bei den Deutungsinhalten drängt sich der Vergleich mit Opfer- oder Heldenkulten geradezu auf. Da sind zunächst die Funktionen einer sozialen Integration und Disziplinierung nach innen, wie sie Andreas Holzem für die Stadt Rottweil im Dreißigjährigen Krieg aufzeigt: Es wird deutlich, dass und wie die Erfüllung religiöser Handlungen nicht zuletzt die bestehende Sozial- und Machtordnung stabilisieren soll (240). Vergleichbare Integrationsfunktionen zeichnen auch die Beiträge von Steffen Krieb (83) und Bernhard Chiari (203) nach. Den damit verbundenen Exklusionsaspekt (die Stigmatisierung von "Sündenböcken") betont Hans-Henning Kortüm am Beispiel der französischen Niederlage von Azincourt (100-103). Zwar lässt sich nachweisen, dass Niederlagen die Forderung nach politischen oder sozialen Veränderungen verstärken können (Mathias Herweg, 38). Häufiger aber führten sie offensichtlich ganz im Gegenteil zur Verfestigung bestehender Wert- und Ordnungsvorstellungen. Ein prominentes Beispiel hierfür bildet der Gefallenenkult nach dem Ersten Weltkrieg (Sonja Levsen, 148 f.). Neben sozialer (Re-)Integration geht es nach Niederlagen - was wenig überrascht - auch um die Mobilisierung nach außen. Wie eine Niederlage dazu dienen kann, als ideologische Legitimationsstrategie eine permanente Bedrohungskulisse aufzubauen, zeichnen Edith Feistner und Michael Neecke anhand der mittelalterlichen Deutschordens-Chronistik überzeugend nach (25). Durch die Jahrhunderte verbreitet ist auch, wie verschiedentlich gezeigt wird, die Mobilisierung zu Rache oder zur Wiedergutmachung vorgeblichen Unrechts (Mathias Herweg, 32 / Steffen Krieb, 85 / Sonja Levsen, 151 / Birte Förster, 302).
Ein zentraler Unterschied zwischen Sieg und Niederlage, dieser Schluss drängt sich in der Gesamtsicht auf, liegt in der nach Niederlagen notwendigen historischen Relativierung durch die Einordnung in ein Zeitkontinuum. Die damit verbundene Zukunftsorientierung, zum Beispiel durch (religiöse oder weltliche) Erlösungsvisionen (Hannes Möhring, 220 f. / Andreas Holzem, 245 / Nikolaus Buschmann, 142), macht das Trauma erträglich, weil reversibel. Die eingangs problematisierte "produktive Reflexion" im Sinne eines "Bruchs mit der überkommenen Erfahrungsstruktur" (1 f.) erweist sich dagegen als historischer Ausnahmefall, Kontinuität ist in den untersuchten Fällen nahezu durchgängig wichtiger als der Bruch mit dem Bestehenden beziehungsweise der Vergangenheit.
Sicherlich bleiben auch in einem solch voluminösen Band Desiderate. Die Fallbeispiele beschränken sich (mit Ausnahme der bei Hannes Möhring dargestellten islamischen Heilserwartungen) auf den europäisch-christlichen Kulturkreis. Im Abschnitt "Diskurse um Geschlecht und Ehre" klingt die Bedeutung von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen in der Repräsentation von Sieg oder Niederlage eigentlich nur bei Birte Förster (302) an. Und weiter zu differenzieren wäre schließlich, wie im Band selbst angemahnt (Andreas Holzem, 256 / Horst Carl, 292), der Begriff der Niederlage. Sein Kernziel, zum Nachdenken über Forschungsperspektiven eines bislang vernachlässigten Feldes der Kriegsgeschichte anzuregen (Einleitung, 11), löst der Band aber vorbildlich ein. Er liefert über die jeweiligen Einzelfälle weit hinausweisende Ergebnisse, die zur Thesenbildung und weiteren kulturgeschichtlichen Forschung geradezu einladen.
Uta Hinz