Marcus Ventzke: Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1775-1783. Ein Modellfall aufgeklärter Herrschaft? (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 10), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, X + 554 S., ISBN 978-3-412-08603-9, EUR 49,90
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In einer Zeit, in der allein das bloße Wort "Reform" Unsicherheit und Angst auszulösen vermag, dürfte es hilfreich sein, in die lange Geschichte von politischen und gesellschaftlichen Reformen zurückzublicken, die Europa bereits hinter sich hat. Zu den Bezugspunkten des deutschen Idealismus, die bis heute ihre Geltung behielten, gehört die Wertschätzung des "Ereignisses Weimar" an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die Weimarer Klassik wurde zu einem Topos nationalgeschichtlicher Sinnstiftung durch Kultur, der für lange Zeit ins Zentrum philologisch-historischer Forschungsarbeit gerückt ist. Die Verklärung der kleinen Residenz an der Ilm zum Symbol führte dazu, dass die konkrete politische Welt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach in den Jahren nach dem Regierungsantritt Carl Augusts und nach der Übersiedlung Goethes aus Frankfurt 1775 ganz aus dem Blick geriet. Es bildeten sich mancherlei Legenden um Goethe als großen Finanzpolitiker oder um das Herzogtum Weimar als aufgeklärten Modellstaat des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die dringendst einer kritischen Überprüfung auf der Grundlage der Archivquellen bedurften.
Dieser Arbeit hat sich Marcus Ventzke mit seiner bemerkenswerten Dissertation gewidmet, die im DFG-Sonderforschungsbereich 482 "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" an der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden ist. Ventzke stellt das thüringische Ereignis vom Kopf auf die Füße, indem er Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Infrastruktur des kleinen Fürstentums durchleuchtet. Er beschränkt seine Untersuchung auf die ersten Regierungsjahre Carl Augusts 1775-1783, in denen entscheidende Weichenstellungen für den späteren Aufstieg Weimars zum Symbol vorgenommen wurden. Systematisch behandelt die Studie alle Politikbereiche, in denen der impulsive junge Fürst und seine Mitarbeiter Lösungen für die teils schon sehr alten Probleme finden mussten, von der leidigen Geldnot des Staates über die Feuerpolizei bis hin zur Errichtung eines "Accouchierhauses" für werdende Mütter.
Nach und nach zerfällt auf den annähernd 500 Seiten der Darstellung das seit dem 19. Jahrhundert gepflegte Bild Sachsen-Weimar-Eisenachs als eines aufgeklärten Musterstaates unter dem Vorzeichen gelingender Reformen. Vergleicht man sie mit den energischen Bemühungen um den Aufbau eines wohlorganisierten Staates in Sachsen-Gotha unter Ernst dem Frommen mehr als ein Jahrhundert zuvor, so fallen die Weimarer Experimente der beginnenden Goethezeit vor allem durch reformpolitische Inkonsequenzen auf. Die Resultate entsprachen nicht den idyllischen Trugbildern, die deutscher Drang zur Selbsttäuschung später ins Blaue hinein entwarf. Die Universität Jena war eben, trotz der Berufung Friedrich Schillers, am Ende des 18. Jahrhunderts keine deutsche oder gar europäische Vorzeigeakademie. Goethe war eben nicht die dominierende Figur der Weimarer Politik in der Regierungszeit Carl Augusts, die sich so gut in ein bürgerlich-liberales Geschichtsbild einfügte. Die Weimarer Finanzreform von 1783 hat es zwar gegeben, doch war sie ganz sicherlich nicht "Goethes Reform", wie sie von Fritz Hartung noch 1923 genannt wurde (123-128).
Von einem "moralisch aufzuwertenden Sonderweg" Weimars in die Moderne will Ventzke zu Recht nichts wissen (15). Er bemühte sich denn auch um die Relativierung des "Ereignisses": "Im Vergleich zu den Luxusausgaben des Hofes stechen die mäzenatischen Aufwendungen [...] nicht sonderlich hervor" (107). Auch damals war die Blase des Reformgeredes mit viel heißer Luft gefüllt: "Letztlich konnten mangelnde Geld- und Rohstoffreserven in Weimar nur mit Diskurs kompensiert werden" (288). Wenn Reformen dann wirklich ins Werk gesetzt wurden, fehlte Weimar oft die Originalität. Kameralistische Wirtschaftsbelebung und höfische Förderung des Kunstbetriebes gehörten lange schon zum Maßnahmenrepertoire deutscher Fürstenstaaten. Nicht einmal die zahlreichen bürokratischen und gesellschaftlichen Hemmnisse, die einer zielgerichteten Umsetzung der Beschlüsse im Weg standen, waren ein Weimarer Spezifikum. So fällt die weimarische Reformbilanz nach 1775 nicht gerade überzeugend aus. Von einem Modellfall aufgeklärter Herrschaft wird in Zukunft nicht mehr zu sprechen sein.
Und das "Ereignis" in Thüringen, die Initialzündung zur Weimarer Klassik? Eine neue Elite trat auf den Plan, wofür man die Berufung Goethes in den Geheimen Rat 1776 tatsächlich als Fanal sehen mag. Misstrauisch bis feindlich beäugten den Neuen die Männer aus der alten adligen Führungsgruppe, die zu sarkastischen Kommentaren neigten: "Es ist beschlossen worden, allen denjenigen bedeutende Stellen zu verleihen, die bisher zur Unterhaltung des Hofes da waren" (41). Die Herrschaft der Genies, die platonische Utopie? Eher: der Wirtschaftsfaktor Geist wurde klugerweise in seinem Stellenwert erkannt und anerkannt. Weimarer Reformpolitiker sahen im Buchhandel eine wirtschaftliche Nische für ihr schwach entwickeltes Gebiet. Nach einer im Sonderforschungsbereich vielfach diskutierten Formel des im Goethe-Umfeld angesiedelten Verlegers, Schriftstellers und Unternehmers Friedrich Justin Bertuch brauchte man zum Büchermachen nur die Landesprodukte "Genie und Lumpen, zwey Dinge die jeder Boden in der Welt trägt" (245), wobei mit den Lumpen einer der Grundstoffe bei der Papierherstellung gemeint war. Vielleicht ist es diese Wert-Schätzung des unschätzbaren Faktors Geist, die den nicht ganz geglückten Weimarer Reformexperimenten noch heute Aufmerksamkeit und Respekt eintragen sollte. Ventzkes Studie über Möglichkeiten und Grenzen des Reformierens im kleinen deutschen Fürstentum verdient jedenfalls große Aufmerksamkeit, sei es auch wegen ihrer aktuellen Bezüge.
Thomas Nicklas