Anika Oettler: Erinnerungsarbeit und Vergangenheitspolitik in Guatemala (= Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde Hamburg; Bd. 60), Frankfurt/M: Vervuert 2004, 364 S., ISBN 978-3-86527-110-5, EUR 36,00
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Die politische und wissenschaftliche Debatte über die Aufarbeitung gewaltsamer Vergangenheit hat Konjunktur. Mit ihrer Dissertation über Guatemala reiht sich Anika Oettler in diese Diskussion ein. Das guatemaltekische Beispiel ist hier zu Lande wenig bekannt; es wird jedoch von der vergleichenden Forschung wegen des sehr hohen Anteils indígenas an der Gesamtbevölkerung (65%) oft zitiert. Der von der Armee jahrzehntelang verübte Terror richtete sich hauptsächlich gegen indigene Gemeinschaften. Oettlers in zehn Kapitel gegliederte Arbeit ist jedoch nicht nur aus vergleichender Perspektive interessant; auch konzeptuell vermag sie zu überzeugen. In Guatemala unternahmen zwei unterschiedliche Träger große Anstrengungen zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen: das von der katholischen Kirche initiierte Projekt zur "Wiederaneignung der historischen Erinnerung" und die offizielle "Kommission zur Historischen Aufklärung". Die Untersuchung dieser beiden Wahrheitskommissionen ist das zentrale Anliegen von Oettlers Monografie. Sie betrachtet sie als Schnittstellen in der nationalen und lokalen / ethnischen Identitätskonstruktion. Die Autorin macht dabei Anleihen bei sozialpsychologischen, konstruktivistischen und funktionalistischen Ansätzen.
Wahrheitskommissionen sind zu einem guten Teil in Lateinamerika erfunden worden. Ausschüsse zur Feststellung gewaltsamer Menschenrechtsverbrechen, vor allem der Praxis des Verschwindenlassens, sind Oettler zufolge oftmals der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Konfliktparteien in Friedensverhandlungen und (Re-)Demokratisierungsprozessen einigen können. Die Gewaltakteure und ihre Helfer betrachten die Aufklärung der Verbrechen durch eine dritte Instanz zumeist als maximales Zugeständnis. Sie sehen ihre Zustimmung zur Einsetzung von Wahrheitsausschüssen als Beitrag zur Herstellung des Friedens und erwarten, dass sie dafür ihre Schuld nicht öffentlich eingestehen müssen und auch von der Strafverfolgung verschont bleiben. Für die Opfer und Menschenrechtsorganisationen bedeutet die Aufklärung der Wahrheit dagegen die minimale Forderung, um einen umfassenden Prozess in Gang zu bringen. Von Wahrheitskommissionen erwarten sie die offizielle Anerkennung der begangenen Verbrechen. Daran knüpft sich zumeist die Hoffnung, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt, was die juristische Aufarbeitung der Gewalttaten einschließt. Wenn die Täter der Einsetzung von Wahrheitskommissionen trotzdem zustimmen, spekulieren sie darauf, dass es nicht zur Verurteilung kommen wird.
Oettler betont, dass in Guatemala Angehörige von Verschwundenen, unter denen Frauen eine wichtige Rolle spielten, bereits in den 1980er-Jahren öffentlich die Forderung erhoben, das Ausmaß von Staatsterror und Repression durch eine Wahrheitskommission festzustellen. Zehn Jahre später, nach dem Abschluss langwieriger Friedensverhandlungen im Dezember 1996, legten die beiden Wahrheitsausschüsse erste Ergebnisse vor. Der Bericht des von Bischof Juan Gerardi geleiteten Projekts "Guatemala - nie wieder!" legte seinen Schwerpunkt auf die Gewalterfahrung von Menschen im Landesinneren. Er thematisierte unter anderem die lange Zeit tabuisierte sexuelle Gewalt gegenüber Frauen. Im Bericht der offiziellen Wahrheitskommission ("Die Erinnerung an das Schweigen") stand dagegen das Leiden einer ganzen Bevölkerungsgruppe, der indígenas, nicht im Vordergrund. Hier ging es in erster Linie darum, die Menschenrechtsverletzungen nach der Kategorisierung des internationalen Rechts zu dokumentieren. Dieser Bericht unterstrich die genozidalen Dimensionen des staatlichen Terrors. Insgesamt sollen in 35 Jahren Krieg bis zu 200.000 Personen umgebracht worden sein. Das Projekt der katholischen Kirche hatte die (katholischen) Erinnerungsgemeinschaften, die offizielle Wahrheitskommission die gesamte guatemaltekische Gesellschaft als Referenzpunkt. Nach Oettler kann man beide Texte als "elementare Bausteine" des kulturellen Gedächtnisses Guatemalas lesen.
Die intendierte Wirkung von Wahrheitskommissionen hängt nicht nur von der möglichst umfassenden Rekonstruktion des Geschehens ab; sie steht und fällt mit der Annahme der dargestellten Gewalt in Täter- und Opfergruppen sowie der nationalen Politik. Die sich vor, während und nach der Präsentation der Berichte um Wahrheitskommissionen bildenden Kommunikationszusammenhänge sind ausschlaggebend dafür, ob sich in der Gesellschaft tatsächlich etwas ändert. Oettler gibt zu bedenken, dass Teile der guatemaltekischen Bevölkerung gegen beide Berichte große Vorbehalte hatten. Gerardi, der Spiritus Rector des kirchlichen Berichts, wurde zwei Tage nach der Präsentation des Berichts am 26. April 1998 getötet. Die guatemaltekischen Behörden haben es bis heute versäumt, den Mord aufzuklären und die Täter angemessen zu bestrafen. Bei der offiziellen Kommission gab vor allem das Verhalten Präsident Álvaro Arzús zu reden, welcher den Bericht in Anwesenheit Kofi Annans und anderer Persönlichkeiten nicht selbst entgegennehmen wollte. Das zivile Staatsoberhaupt wollte somit die moralische Verantwortung für die dokumentierten Verbrechen der Armee nicht übernehmen. Der offizielle Bericht wurde zwar breit kommuniziert, doch empfanden vielen Menschen dieses Narrativ als zu abstrakt. Leider ist in diesem Zusammenhang das Teilkapitel über "Geschichte im lokalen und regionalen Bezugrahmen" mit weniger als drei Seiten sehr knapp geraten.
Sehr spannend sind die Ausführungen über Bedingungen und Möglichkeiten zur Versöhnung auf lokaler und nationaler Ebene. Oettler verweist auf das Konzept der katholischen Kirche, die von der Offenlegung der Wahrheit als Voraussetzung für Vergebung (Gnade) und die Herstellung einer gerechten Erinnerung ausgeht. Darauf aufbauend könne ein friedliches Zusammenleben der Menschen bewerkstelligt werden. Oettler konstatiert, dass für viele Betroffene die von der offiziellen Kommission beabsichtigte Konstruktion einer nationalen Wahrheit als Voraussetzung für die Bildung einer Gesellschaft, in der indianische und nichtindianische Gemeinschaften gleichwertig nebeneinander stehen, nachrangig war; der Kontext der Gruppengemeinschaft sei für sie im Vordergrund gestanden. Oettler lässt anklingen, dass das katholische Projekt die Betroffenen besser repräsentierte als das offizielle, weil es lebensnaher - auf die Konstruktion von Gemeinschaftsidentitäten ausgerichtet - war.
Für manche Leser dieser Arbeit dürfte der Vergleich zwischen dem kirchlichen und dem offiziellen Projekt zu wenig systematisch ausgefallen sein. Auch wäre eine kritische Reflexion über die Grenzen von Gerardis Projekt vor dem Hintergrund des enormen Zulaufs, den protestantische Sekten in Guatemala genießen, sinnvoll gewesen. Diese Einschränkungen ändern jedoch nichts daran, dass Oettlers Dissertation ein über die guatemaltekischen Landesgrenzen hinausweisender Beitrag zur Erforschung von Wahrheitskommissionen ist. Die Studie ist ein innovativer Beitrag über die Verzahnung von individuellem und kollektivem Gedächtnis.
Thomas Fischer