Vittorio Magnago Lampugnani / Ruth Hanisch / Ulrich Maximilian Schumann u.a. (Hgg.): Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste, Ostfildern: Hatje Cantz 2004, 336 S., ISBN 978-3-7757-1375-7, EUR 58,00
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Wenn das zahlreiche Auftreten thematisch ähnlicher Publikationen ein Indikator dafür ist, womit sich unsere Gesellschaft im Augenblick am meisten beschäftigt, dann muss gegenwärtig ein ungewöhnlich hohes Interesse an der theoretischen Reflektion über Architektur konstatiert werden. Es vergeht neuerdings kein Jahr, in dem nicht mindestens eine Veröffentlichung zur Architekturtheorie erscheint, sei es als Gesamtdarstellung ihrer historischen Entwicklung oder als Anthologie. Zuletzt hat nun Vittorio Magnago Lampugnani in Kooperation mit Ruth Hanisch, Ulrich Maximilian Schumann und Wolfgang Sonne "Positionen, Programme, Manifeste" der Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Das bei Hatje Cantz erschienene Werk versteht sich als Pendant zur 2003 im selben Verlag erschienenen deutschen Studienausgabe der zweibändigen Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts von Charles Harrison und Paul Wood. Dementsprechend präsentiert auch der Architekturband seine über 130 Quellenexzerpte in chronologischer Reihenfolge und stellt ihnen jeweils eine kurze Einleitung voran, die neben ausführlichen bibliografischen Angaben Autor und Schrift in ihrem Zeitkontext situiert. Dabei wurde wie beim Vorgängerwerk darauf verzichtet, die angeführten Textstellen durch Abbildungen zu illustrieren.
Eröffnet wird jenes Panorama architektonischer Theoriebildung im 20. Jahrhundert allerdings durch Schriften des Fin de Siècle, was durchaus plausibel erscheint. Schließlich lieferten bereits Architekten wie Hendrik Petrus Berlage, Otto Wagner und Adolf Loos in zahlreichen Programmen die zentralen Stichworte für die spätere Reflektion über eine zeitgemäße moderne Architektur. Ökonomie des Dekors, Symmetrieverzicht, Funktionalität und Rationalismus waren fortan die Themen, die aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet wurden und auch heute noch trotz ihrer postmodernen Revision im gegenwärtigen Diskurs weiter fort wirken. Als besonders positiv ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass der vorliegende Band neben den allseits bekannten Klassikern der Architekturmoderne von Ludwig Mies van der Rohe über Walter Gropius bis zu Bruno Taut mit vielen zum Teil bisher wenig bekannten Texten aufwartet, die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen; darunter etwa Francis Reginald Stevens Yorkes frühe Parteinahme für das Neue Bauen in England, Auguste Perrets technikbegeistertes Architekturgedicht "Contribution à une théorie de l'architecture" (1949) sowie zahlreiche italienische Beiträge von Marcello Piacentini bis Vittorio Gregotti und Giorgio Grassi. Komplettiert wird der Band durch Statements wichtiger zeitgenössischer Architekten wie etwa Peter Eisenman, Daniel Libeskind, Rem Koolhaas, Tadao Ando oder Ben van Berkel.
Die Präsentation der Quellen richtet sich strikt nach der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens, wobei im Unterschied zu den Kunsttheorie-Bänden sogar darauf verzichtet wird, die Exzerpte unter Schlagworten zusammenzufassen. Stattdessen wird der Leser mit einem Reigen höchst heterogener Gedanken konfrontiert, der, so die Absicht der Herausgeber, die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts vor Augen führen soll. Ungeachtet jener Objektivität verheißenden chronologischen Ordnung (Lampugnani) muss aber dennoch die Frage erlaubt sein, welche Kriterien der vorliegenden Auswahl zu Grunde liegen, zumal, wenn der nicht gerade bescheidene Anspruch formuliert wird, die "wichtigsten architekturtheoretischen Schriften" des 20. Jahrhunderts versammelt zu haben. Wäre dem tatsächlich so, dann vermag wohl allein der räsonierende Architekt etwas Substanzielles zur Architekturtheorie beizutragen. Nur so lässt sich erklären, dass der Leser dieser Anthologie vergeblich nach den Stimmen der so genannten Architekturkritik sucht, die ja seit dem 18. Jahrhundert Wesentliches zur Architekturdiskussion beizusteuern vermochte. Stattdessen kaprizieren sich die Herausgeber auf "Architekten, die aus der eigenen Arbeit heraus und für diese Arbeit argumentieren" (Einleitung).
So legitim jene Begrenzung aus ökonomischen Gründen auch sein mag, in Verbindung mit dem oben genannten Anspruch eines Standardwerks zur Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts ist sie jedoch absurd. Dies wird allein schon auf der quantitativen Ebene deutlich: Der 1.449 Seiten umfassenden Kunsttheorie Harrisons und Woods steht der mit rund 330 Seiten äußerst schmale Architekturband gegenüber. Zentrale Schriften von Architekturkritikern, Kunsthistorikern und Philosophen wie August Schmarsow, Adolf Behne, Colin Rowe, Manfredo Tafuri oder Jacques Derrida, um nur einige zu nennen, werden vollständig ausgeblendet. In der Einleitung wird jene einseitige Darstellung verharmlosend auf pragmatische Erwägungen der Benutzerfreundlichkeit und Erschwinglichkeit zurückgeführt. Indes dürfte die rigide Verknappung eines gerade im 20. Jahrhundert vielfältigen Diskurses nicht allein der Sorge um den Leser geschuldet sein, was unter anderen Umständen durchaus begrüßenswert wäre. Vielmehr spiegelt sich hierin ein bestimmtes Verständnis von Architekturtheorie wider.
Tatsächlich knüpft Lampugnani hiermit an eine Position an, die er bereits vor zehn Jahren formulierte, als er in einem provozierenden Essay bestimmte Tendenzen in der zeitgenössischen Architektur scharf verurteilte. Wenngleich manches Argument jenes polemischen Statements auch heute noch durchaus nachvollziehbar ist, waren Lampugnanis Schlussfolgerungen doch fatal. Eine neue "tradierte Gediegenheit", zuletzt verwirklicht in der Architektur des Nationalsozialismus, müsse wieder an die Stelle modischer Tendenzen treten und schließlich galt es ein für alle Mal mit den so genannten Feuilletonisten abzurechnen, die den professionellen Diskurs durch ihr laienhaftes Urteil gleichsam verunreinigten. Die vorliegende Anthologie scheint mit jener geforderten Introvertiertheit einer ausschließlich diplomierten Architekten zugänglichen Diskussion Ernst zu machen. Somit liegt der vorliegenden Anthologie mitnichten eine objektive Ordnung zu Grunde. Im Gegenteil, Lampugnanis problematisch undifferenziertes Verhältnis zur modernen Architektur tritt gelegentlich offen in den ansonsten um Objektivität bemühten Einführungen der Anthologie zu tage. So wird etwa Mussolinis Hofarchitekt Marcello Piacentini zum Sprachrohr Lampugnanis, wenn er dessen Schrift "Architettura d'oggi" (1930) als Kritik an den "avantgardistischen Exzessen" versteht, eine Formulierung, die Piacentini nicht gebraucht und die auch nicht ihren konkreten Entstehungshintergrund erklärt. Derartige, für das Verständnis des jeweiligen Standpunktes nicht gerade hilfreiche Kommentare lassen hellhörig werden. Dabei drängt sich unvermeidlich die Frage auf, ob dem Verzicht auf bestimmte 'exzessive' Schriften wie etwa Ludwig Mies van der Rohes "Baukunst und Zeitwille" oder Adolf Loos' "Ornament und Verbrechen" nicht eine ganz bewusste Zensur zu Grunde liegt.
Am Ende bleibt der Eindruck einer eigenartig diffusen Mischung aus wissenschaftlichem Anspruch und persönlichem Statement, was vielleicht zeigt, wie schwierig es auch heute noch fällt, Komplexität und Widerspruch der modernen Architektur durch eine abwägende und nachdenkliche Darstellung gerecht zu werden. Beispiele hierfür existieren dennoch. Ákos Moravánszky, wie Lampugnani Professor am Institut gta der ETH Zürich, veröffentlichte unlängst eine Anthologie, die ein umfassenderes und ungleich vielfältigeres Bild architektonischer Theoriebildung im 20. Jahrhundert zu vermitteln vermag. Dabei verdankt sich dieser Umstand eben auch der Einsicht, dass eine allzu oft gepflegte 'Xenophobie' sowie die Illusion einer Objektivität stiftenden Quellenchronologie eine angemessene Darstellung von vornherein unmöglich macht. Dem entgegen setzt Moravánszky einen verhältnismäßig weitgefassten Begriff von Architekturtheorie, der dem Umstand Rechnung trägt, dass das Nachdenken über Architektur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr allein eine Sache der Architekten ist, sondern eben auch zum Gegenstand von Kunstgeschichte, Philosophie, Soziologie und Psychologie wurde. Eine Tatsache, die ja schließlich auch von den Architekten selbst reflektiert wurde, wenn den Theorien von Herman Sörgel bis Peter Eisenman das Bewusstein zu Grunde liegt, dass eine angemessene Wesensbestimmung des eigenen Faches durch den genuinen Architekturdiskurs nicht mehr zu leisten war. Aus dieser Perspektive betrachtet, bleibt die vorliegende Anthologie zuweilen sogar hinter dem Horizont einiger ihrer Quellen zurück.
Carsten Ruhl