Michael Reichel (Hg.): Antike Autobiographien. Werke - Epochen - Gattungen (= Europäische Geschichtsdarstellungen; Bd. 5), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, VIII + 277 S., ISBN 978-3-412-10505-1, EUR 34,90
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Erich S. Gruen (ed.): Cultural Borrowings and Ethnic Appropriations in Antiquity, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Unter formalen Aspekten lässt sich die antike Autobiografie noch schwieriger erfassen als die antike Biografie, wie bereits Georg Misch in seinem klassischen Werk gezeigt hat. [1] Nachdem sich zuvor erst eine Konferenz mit der "invention de l'autobiographie" befasst hatte [2], setzte ein Düsseldorfer Symposium im Jahre 2001 diese Forschungen zu Werken, Epochen und Gattungsproblemen der antiken Autobiografie fort, dessen Beiträge im vorliegenden Band publiziert werden. Dieser spannt einen weiten Bogen von der Dichtung der griechischen Archaik bis in die christliche Spätantike. Der Leser findet zwei einleitende Beiträge zu Problemen der Gattungstheorie der Autobiografie und literarisch-psychologischen Aspekten, danach sechs zu griechischen und fünf zu lateinischen Werken mehr oder weniger autobiografischen Charakters. Die autobiografisch-apologetischen Reden des späten 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus werden leider nur im Kontext anderer Beiträge (zum Beispiel 66-69 oder 83-85) als eine der wichtigsten antiken Vorstufen beziehungsweise Alternativen zu eigenständigen Autobiografien gewürdigt.
Günter Niggl (1-13) erinnert zu Recht daran, dass der Fachausdruck Autobiografie oder Selbstbiografie in der Rhetorik und Literaturtheorie erst im späten 18. Jahrhundert geprägt wurde und damit noch jünger ist als der ebenfalls erst nachantike Gattungsbegriff der Biografie. Eng verwandt ist die Autobiografie mit der Memoiren-Literatur beziehungsweise ihren antiken Vorformen, den griechischen Hypomnemata und lateinischen Commentarii (de vita sua). Wegweisende jüngere Studien haben sich jedoch der Autobiografie oder den 'Ego-Dokumenten' [3] primär aus der Sicht der heutigen Literaturtheorie und auf der Basis von Werken des 18.-20. Jahrhunderts gewidmet. [4] Niggl und andere Autoren des vorliegenden Bandes sprechen für die griechisch-römische Antike gerne von autobiografischen Mitteilungen und Passagen oder literarischen Ego-Dokumenten in unterschiedlichen Gattungen statt von einer eigenständigen Gattung der Autobiografie. Insgesamt findet man in der antiken Rhetorik und Literaturkritik viel weniger Reflexionen über autobiografisches Schreiben und Gattungsprobleme als in der Neuzeit. Carl Pietzcker (15-27) erläutert die Erinnerung an Schlüsselerlebnisse und prägende Ereignisse des eigenen Lebens aus psychoanalytischer Sicht. Alles Erinnern stößt immer wieder auf Hindernisse und Abwehrmechanismen. Jedes individuelle Erinnern ist zugleich ein oft konfliktreiches Konstruieren. In der Autobiografie kommt es zu einer problematischen Spaltung zwischen erinnerndem und erinnertem, erzählendem und erzähltem Ich. Die differenzierten Modelle, die aus der psychoanalytischem Arbeit mit Personen des 20. Jahrhunderts gewonnen wurden, lassen sich jedoch nur bedingt auf die Interpretation von Ego-Dokumenten antiker Personen übertragen.
Wolfgang Rösler (29-43) erwähnt als Ansätze autobiografischen Schreibens zu Recht bereits den Bericht des Odysseus bei den Phäaken und einige Verse Hesiods. Das entstehende Gattungssystem der frühen griechischen Dichtung sah aber Autobiografien in Versen über ein individuelles Leben von der Geburt bis zum Tod noch nicht vor (32). Wichtige Texte des Archilochos oder Solon stellen schon biografische Ereignisse sowie die Motive und Ziele ihres Handels in den Mittelpunkt. Michael Reichel (45-73) untersucht die Anabasis, die formal die Gattungstradition einer historischen Monografie wahrt, aber umfangreiche autobiografische Informationen vermittelt. Michael Erler (75-92) betont, wie stark die autobiografischen Passagen des 7. Briefes der Verteidigung der philosophischen Lebensform dienen. Hier liegt in der kommunikativen Situation eine große Nähe zur zeitgenössischen Antidosisrede des Isokrates vor. Über sich selbst lobend und verteidigend zu sprechen, erforderte im 4. Jahrhundert in Hellas offenbar noch einen plausiblen Kontext der Selbstrechtfertigung oder die Fiktion der Antwort auf eine Bitte. Bernd Effe (93-107) wendet sich gegen eine autobiografische Interpretation des Idylls. Es sei vielmehr ein elegantes Spiel mit einem Rollen-Ich. Theokrit wolle das "städtische Salonschäfertum" ironisch entlarven (106). Eine autobiografische Rezeption werde im Fortgang des Idylls kontinuierlich destruiert.
Peter Kuhlmann (109-121) untersucht Papyrustexte als reiches Quellenmaterial an Ego-Dokumenten. Sie erreichen oft einen höheren Grad an Authentizität und Direktheit als rhetorisch-literarisch stilisierte Texte. [5] Aus Papyri und Inschriften sind für die Geschichte der antiken Autobiografie auch in Zukunft interessante Ego-Dokumente zu erhoffen.
Thomas Baier (123-142) konzentriert sich auf historische Literatur, "deren Verfasser selbst an den geschilderten Ereignissen beteiligt waren" (125). Die römische Autobiografie (Hypomnema, Commentarius) entwickelte sich von einfacher Apologie zu raffinierten Formen der Propaganda für die eigene Person und factio. Baier diskutiert unter anderem Ciceros Hypomnema über Ereignisse während seines Konsulates, das zwischen Geschichtswerk und apologetischer Memoirenliteratur stand, und das Epos De consulatu suo. In beiden Werken stand der Höhepunkt des politisch-sozialen Lebens im Mittelpunkt, wie es für Autobiografien von römischen Politikern und Heerführern typisch ist. In der Nobilitätselite wurde autobiografisches Schreiben im 1. Jahrhundert vor Christus immer populärer, wie die Werke des Q. Lutatius Catulus, M. Aemilius Scaurus, P. Rutilius Rufus und L. Cornelius Sulla belegen, bezeichnenderweise konsulare Senatoren und ein Diktator. [6] Baier weicht der interessanten Frage aus, warum erst in dieser Krisenepoche der römischen Republik die autobiografisch-apologetischen Texte quer durch die Faktionen der Optimaten oder Popularen zunehmen. [7]
Martina Hirschberger (143-183) arbeitet heraus, dass Iosephos im "Jüdischen Krieg" und seinen anderen Werken sowohl an griechische als an jüdische Gattungstraditionen anknüpfte. Auf die Autobiografie des Iosephos geht sie jedoch nur kurz ein (171-173).
Claudia Klodt (185-222) bringt eine detaillierte Interpretation lateinischer poetischer Ego-Dokumente. Ovids Text darf mit Recht als die erste erhaltene lateinische poetische Autobiografie gelten, weil er die gesamte Lebensspanne von der Geburt des Dichters bis zu seinem dichterisch antizipierten Tod umfasst.
Anthony R. Birley (223-235) erörtert die wenigen erhaltenen Fragmente aus Hadrians Selbstbiografie, über deren Struktur angesichts der Überlieferungslage alle Theorien spekulativ bleiben. Vorsichtig erörtert Birley Einflüsse der hadrianischen Autobiografie auf SHA Vita Hadriani und auf Cassius Dio. Es wäre reizvoll gewesen, Birleys Referat um eines über die Ego-Dokumente des Augustus (die Autobiografie und mehrere Inschriften mit autobiografischem Inhalt, insbesondere die Res Gestae) zu ergänzen. [8] Bernhard Zimmermann (237-249) beobachtet, dass in der jüngeren Literatur über die Confessiones, die von vielen Literaturhistorikern als die erste erhaltene antike Autobiografie gewürdigt werden, der protreptisch-theologische Charakter stärker als ihre autobiografische Qualität betont wird. Dies ist aber nach Zimmermann ein Scheingegensatz. Denn die Selbstbiografie des Augustinus wird im spezifischen christlichen Kontext der Confessio zugleich zum Modell für Gottes Gnadenwirken. Der Band endet mit einer gründlichen Interpretation der Briefe des 1. Buches des Briefcorpus des Apollinaris Sidonius durch Jochem Küppers (251-277). Während bisher das Briefcorpus primär als Quelle für die spätantike Geschichte Galliens und des weströmischen Reiches ausgewertet wurde, fragt Küppers nach der autobiografischen Qualität der Texte. Denn mit der Auswahl und Anordnung der Briefe verfolgte der Autor bestimmte autobiografische Interessen (261). Das ganze Briefcorpus ist wie die älteren des Cicero, Plinius oder Symmachus eine Fundgrube autobiografischer Informationen.
Alle Beiträge des vorliegenden Bandes lohnen die Lektüre, tragen aber in einem unterschiedlichen Maße dazu bei, die Entwicklung der antiken Autobiografie näher zu erfassen.
Anmerkungen:
[1] Geschichte der Autobiographie, Bd. I. Das Altertum, 1. Hälfte, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1949.
[2] Marie-Francoise Baslez / Philippe Hoffmann / Laurent Pernot (Hg.): L'invention de l'autobiographie d'Hésiode à Saint Augustin, Paris 1993.
[3] Vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996.
[4] Vgl. Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2. Aufl., Darmstadt 1998.
[5] Zu autobiografisch aussagekräftigen Inschriftentypen, die in diesem Band nicht behandelt werden, vgl. jüngst Konrad Vössing (Hg.): Biographie und Prosopographie, Stuttgart 2005, rezensiert von Johannes Engels in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4; URL: http://www.sehepunkte.de/2005/04/6803.html.
[6] Vgl. Martine Chassignet: L'Annalistique Romaine, Tome 3: L'Annalistique Récente. L'Autobiographie Politique (Fragments), Paris 2004.
[7] Vgl. dazu Uwe Walter: "natam me consule Romam". Historisch-politische Autobiographien in republikanischer Zeit - ein Überblick, in: Der Altsprachliche Unterricht 46 (2003) 2, 36-43 und Martine Chassignet: La naissance de l'autobiographie à Rome: laus sui ou apologia de vita sua?, in: Revue des Études Latines 81 (2003), 65-78.
[8] Vgl. Dennis Pausch: Formen literarischer Selbstdarstellung in der Kaiserzeit. Die von römischen Herrschern verfaßten autobiographischen Schriften und ihr literarisches Umfeld, in: Rheinisches Museum für Philologie 147 (2004), 303-336.
Johannes Engels