Wolfram G. Theilemann: Adel im grünen Rock. Adliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866-1914 (= Elitenwandel in der Moderne; Bd. 5), Berlin: Akademie Verlag 2004, 593 S., ISBN 978-3-05-003556-7, EUR 59,80
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Wer in Wolfram Theilemanns Studie zu lesen beginnt, wird umgehend in eine anachronistisch-skurril anmutende Szenerie entführt: Die Hubertusjagd Kaiser Wilhelms II. im Berliner Grunewald am 3. November 1904 und die Feierlichkeiten des Vortages. Der Kaiser reitet, jagt und tafelt umgeben von Angehörigen der Forstverwaltung - einige zugleich Chargen der kaiserlichen Hofjagdverwaltung - und von Mitgliedern des "Reitenden Feldjäger Corps", jener auf Friedrich II. zurückgehenden militärisch-forstlichen preußischen Funktionselite. Grünberockte Jäger und Förster - mithin "das Land" - gaben sich im Herzen der nervös pulsierenden modernen Großstadt ein Stelldichein und versammelten sich zu einer elitären Selbstinszenierung, die schon manchem Zeitgenossen als überlebte feudale Reminiszenz erschien.
Die unter den Teilnehmern des geschilderten Ereignisses überproportional vertretenen Angehörigen der ländlichen Elite Preußens stehen im Zentrum von Theilemanns Interesse, genauer gesagt der adlige Anteil an dem vom Autor sorgfältig analysierten adlig-bürgerlichen Amalgam. Orientiert am elitentheoretischen Konzept des Berliner DFG-Forschungsprojekts "Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung. Adel und bürgerliche Führungsschichten in Deutschland 1770-1930" (Heinz Reif, Hartmut Harnisch), untersucht Theilemann Elitenformation und Elitenwandel im Zusammenhang mit der Nutzung der natürlichen Ressource Wald im Preußen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dieser von ihm in der "Schnittmenge von Forst- und Adelsgeschichte" angesiedelte Forschungsgegenstand führt Theilemann zu Fragen nach Jagdmotiven und "jagdlich akzentuierte[n] Kommunikationsnetzwerke[n]", nach dem Wirtschaftsfaktor Wald und nach der Forstbeamtenschaft als Sozialmilieu (28). "Adliges 'Obenbleiben', bürgerliche Aufstiegsmobilität und forstlicher Funktionswandel" (44) sind zentrale Faktoren, die die Entwicklung der ländlichen Lebenswelten in einer sich modernisierenden Gesellschaft begleiteten und denen Theilemann nachspürt.
Das erste Hauptkapitel nähert sich aus einer mentalitätsgeschichtlichen Perspektive heraus der Bedeutung der Jagd für preußische Adelsfamilien. Die in zahlreichen ausgewerteten Selbstzeugnissen greifbaren individuellen Motive zu jagen, werden vor dem Hintergrund struktureller Entwicklungen diskutiert. Zunächst weist Theilemann auf eine in Preußen von anderen Territorien abweichende Ausgangssituation hin: Im frühneuzeitlichen Preußen hatte der prunkvolle landesherrliche Jagdbetrieb absolutistischer Prägung, wie er in Mittel- und Süddeutschland vertreten war, weitgehend gefehlt, während der Adel es verstanden hatte, das hohe Jagdrecht an sich zu ziehen. Entsprechend hoch muss die symbolische Kraft der neoabsolutistischen wilhelminischen Jagdinszenierungen - auch und gerade in Rückwirkung auf den preußischen Adel - veranschlagt werden. Die fundamentalen jagdrechtlichen Wandlungsprozesse der Jahre 1848-1850, die in Preußen wie in anderen Ländern des Deutschen Bundes das Jagdrecht formal entprivilegierten, wurden zwar vom Adel als Verlust erfahren. Doch bediente man sich durchaus bürgerlicher Mittel wie der Gründung jagdlicher Vereine, um seine angestammte hegemoniale Stellung im Jagdwesen (und damit im ländlichen Raum generell) abzusichern. Zugleich fand man neue Räume für jagdliche Aktivität, zum Beispiel in den jagdlich durchsetzten Regimentskulturen der Jägerbataillone und in der kolonialen Jagd. Dank seiner traditionellen Kompetenz in dieser zunehmend auch für nicht adlige urbane Eliten attraktiven "erste[n] natursportliche[n] Betätigung" (68) konnte sich der Adel als kulturell-sportlicher Trendsetter gerieren. Theilemann diagnostiziert einen Fortbestand traditioneller Motive und Funktionen adliger Jagd (Freizeitvergnügen, gesellschaftliches Ereignis und Kommunikationsplattform, rituelle Herrschaftsbekräftigung, selektierendes Eingreifen in die Natur, Training und Abhärtung der männlichen Jugend) und analysiert deren Weiterentwicklung. In der Jagd zur Kaiserzeit sieht er "eine ebenso kulturvolle wie -bewahrerische Attitüde gegenüber einer zunehmend bedrohten Umwelt, schließlich auch eine zusehends verhärtete, zu obrigkeitstreuer und biologistischer Militanz verleitende Rückzugskultur" (61).
Jagd als zumindest unterschwellige antiurbane und antikapitalistische Abgrenzung des auf dem Lande verwurzelten Adels evoziert die Frage nach der wirtschaftlichen Tragkraft des überkommenen adlig-ländlichen Lebensentwurfs. Dieser Frage geht das zweite Hauptkapitel in einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Analyse der Entwicklung adligen Waldbesitzes im Untersuchungszeitraum nach. Durch die statistische Auswertung serieller Quellen und durch den an Fallbeispielen geführten Vergleich privater Waldbewirtschaftung mit Staatsforstrevieren kann er aufzeigen, dass zumindest der Großprivatwald dem Adel eine stabile ökonomische Basis bot. Gerade die industrielle Entwicklung nach 1840 mit ihrem Holzbedarf für Kohlebergbau, Eisenbahnschwellen, Bausektor und Papierindustrie verschaffte der Forstwirtschaft eine langfristig gute Konjunktur. Die leise vernehmbare Klage darüber, dass dieser Befund zu den weitgehend "ungehörten" Hinweisen der jüngeren Forstgeschichte (296) gehöre, erscheint angesichts der aktuellen umweltgeschichtlichen Diskussion als obsolet [1], wird aber vor dem Hintergrund der hohen Wertschätzung des Autors für die Forstgeschichte Brandl'scher Prägung verständlich (296-298). Wenig überzeugt, dass sich Theilemann bei seiner negativen Beurteilung des Waldzustandes und des Wirtschaftens vor allem im Kleinprivatwald (252, 263-270) weitgehend auf die Kritik des zeitgenössischen forstlichen Autors Heinrich von Kujawa verlässt, ohne wiederum dessen Perspektive zu problematisieren.
Der Fokus des dritten Hauptkapitels richtet sich auf die "rural sub-elite" der Forstbeamten (345). Vorrangiges Ziel quantitativer und prosopografischer Analysen ist es, die adelige Präsenz in diesem Berufsfeld zu ermitteln und vor dem Hintergrund der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zu diskutieren. Theilemann rekonstruiert in beeindruckender Datendichte Trends im Verhältnis zwischen Adeligen und Nichtadeligen unter den Besuchern der forstlichen Lehranstalten (Eberswalde, Hannoversch Münden, Universität Göttingen, im Vergleich auch das sächsische Tharandt), im "Reitenden Jäger Corps" und den Jägerbataillonen (dem schon erwähnten militärischen Zugangsweg zum Forstdienst) und schließlich im Forstdienst selbst. Ausgehend von einer adeligen Mehrheit im Forstdienst um 1816 waren um 1866 nur mehr 16% der Forstbeamten adlig. Von diesem Stadium ausgehend, konnte der Adel seine Position freilich behaupten beziehungsweise zum Jahrhundertende hin wieder ausbauen. Theilemann mag diesen, durch staatliche Zugangsrestriktionen verstärkten Trend nicht als gezielt refeudalisierende Politik verstehen. Jenseits blanker Zahlen verdienen Faktoren wie das ländliche Herkunftsmilieu der meisten Forstaspiranten, ihre relativ abgeschottete Ausbildung an den wenig urbanen Standorten Eberswalde und Hannoversch Münden sowie das militärische Element des "Reitenden Jäger Corps" als sozial ausgleichend Beachtung, da sie die Entstehung einer elitären und besonders monarchienahen, adelige wie bürgerliche Angehörige via Corpsgeist zusammenschweißenden Identität förderten. Gerade dieser "aristokratisierte Bürgersinn" (491) und Corpsgeist machte diese gesellschaftliche Gruppe freilich nach 1918 anfällig für rechte antidemokratische Gesinnungen.
Wolfram Theilemanns Arbeit studiert den Wandel traditionaler Werte- und Funktionseliten sowie die Formierung und Entwicklung einer herrschaftsnahen Fachelite. Dass er hierzu die Faktoren Jagd, Waldbesitz und Forstbeamtentum einer aus wechselnden Blickwinkeln operierenden Gesamtschau unterzieht, überzeugt aufgrund des vielschichtigen Zusammenwirkens, das dabei sichtbar wird. In Fragen der Waldnutzung argumentiert er aus einer dezidiert forstwirtschaftlichen Perspektive. In der Summe hat Theilemann einen materialreichen und unbedingt lesenswerten sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Beitrag zur Stellung von Adel, Jagd und Forstwesen in den Transformationen und Umbrüchen des Deutschen Kaiserreichs vorgelegt.
Anmerkung:
[1] Vgl. bereits 1987 Joachim Radkau / Ingrid Schäfer: Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte, Reinbek 1987; jüngst: Bernd-Stefan Grewe: Das Ende der Nachhaltigkeit? Wald und Industrialisierung im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), 61-79, hier v.a. 72-78.
Martin Knoll