Rezension über:

Kate Brown: A Biography of No Place. From Ethnic Borderland to Soviet Heartland, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2004, XII + 308 S., ISBN 978-0-674-01168-7, GBP 29,95
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Rezension von:
Dieter Pohl
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Pohl: Rezension von: Kate Brown: A Biography of No Place. From Ethnic Borderland to Soviet Heartland, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/5990.html


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Kate Brown: A Biography of No Place

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Wo liegt "No Place", wird sich der Leser zunächst fragen, der dieses Buch in die Hand nimmt. Die eingangs abgedruckten Karten führen ihn eher in die Irre, zumal sie unvollständige Verwaltungsgrenzen abbilden. Auch die Terminologie der Autorin trägt wenig zur Erhellung bei. Sie spricht durchweg von den "kresy" und meint damit die südöstlichen Provinzen Polens aus Zeiten vor der Teilung von 1793. Dieser Begriff wird aber inzwischen nur noch für die polnischen Ostgebiete nach 1921 verwendet. Das Buch behandelt freilich die Gebiete der rechtsufrigen Ukraine, das heißt von der polnischen Ostgrenze bis zum Dnepr, zwischen den Weltkriegen.

Diese Territorien, lange Zeit geprägt durch sprachliche und religiöse Vielfalt, sind bisher nahezu terra incognita für die Geschichtsforschung geblieben. Unter der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit lebten Juden, Polen, Deutsche und andere. In den zweieinhalb Jahrzehnten von 1923 bis 1947, denen das Interesse der Autorin gilt, wurden diese Gruppen durch den Staat voneinander abgegrenzt, die Polen wie die Deutschen deportiert und die Juden zu einem großen Teil ermordet. Aus einem multiethnischen Grenzraum wurde ein weitgehend homogenes Binnenland. Übrig blieb eine ukrainische Gesellschaft unter kommunistischen Vorzeichen.

In den Zwanzigerjahren traf die Sowjetmacht noch auf eine Einwohnerschaft, die sich vor allem an lokalen Identitäten orientierte, sich als "Hiesige" verstand. Die atheistischen Behörden sahen sich bisweilen mit orthodoxem Wunderglauben und jüdischer Volksreligiosität konfrontiert, denen sie wenig entgegenzusetzen hatten. Mit einer bürokratischen Politik der Ethnisierung, der korenizacija, sollten traditionelle Lebenswelten geschwächt und übersichtliche Kategorisierungen geschaffen werden. Im Zentrum des Interesses stehen jedoch nicht die Ukrainer, sondern die Minderheiten. Dies wird an zwei der so genannten Nationalitätenrajons, je einem polnischen und einem deutschen, verdeutlicht. Doch der zuständige Kommissar für Nationalitätenfragen stieß schnell an seine Grenzen. Die Milieus erwiesen sich als zählebig, die Zwangskollektivierung verlief vergleichsweise langsam. So wandte sich das Regime schon Mitte der 30er-Jahre, also vor dem Großen Terror, gezielt mit Massendeportationen und Gewalt gegen ethnische Gruppen. Viele fanden sich als Zwangskolonisten in den unwirtlichen Gegenden Kazachstans wieder, wo ein großer Teil der Bevölkerung dem Massensterben Anfang der 30er-Jahre zum Opfer gefallen war. Die polnische Minderheit in der Ukraine, einstmals als Aushängeschild gegenüber dem grenznahen Polen gedacht, wurde 1937/38 zum Hauptopfer ungehemmter Verfolgung.

Diese Vorgänge werden von der Autorin auf der Basis zentraler und regionaler Archive mit einem exemplarischen Zugriff plastisch nachverfolgt. Die Logik des Regimes soll anhand von biografischen Skizzen wichtiger "social engineers" verdeutlicht werden, wie des ukrainischen GPU-Chefs Vsevolod Balyc'kyj. Doch die kulturalistischen Deutungsversuche sowohl von Bevölkerung als auch von Funktionären lassen es immer wieder an der Ausleuchtung des politischen Hintergrundes und an analytischer Gewichtung vermissen. So wird das große Hungersterben in der Ukraine 1932/33 nur ganz am Rande erwähnt, obwohl es gerade im Süden und Osten des behandelten Gebietes verheerende Ausmaße angenommen und die Minderheiten überproportional getroffen hat.

Besonders sichtbar wird diese Schwäche im Kapitel zur deutschen Besatzungszeit 1941-1944, dessen Niveau deutlich hinter andere Untersuchungen zurückfällt. [1] Hier wird ernsthaft behauptet, das ganze Gebiet sei für deutsche Besiedlung vorgesehen und sollte deshalb aus der Sicht der Besatzer "veredelt" werden. Tatsächlich ging es der nationalsozialistischen Führung nur um wenige "Siedlungsinseln" für Deutsche, die Bevölkerung galt dauerhaft als billiges Arbeitskräftereservoir. Im Zentrum der Darstellung steht das kleine deutsche Ethnografenkommando, das die Ukrainedeutschen erfassen und "kartographieren" sollte. Von dessen Geschichte abgesehen, wimmelt das Kapitel jedoch von schiefen oder falschen Behauptungen. So war die sowjetische Nationalitätenklassifizierung für Juden keine entscheidende Voraussetzung für den Mord durch die Nationalsozialisten, vielmehr ein Hilfsmittel, das nur gelegentlich genutzt wurde. Eine Kontinuität kann man also nur sehr bedingt herstellen.

Zweifellose liegt viel Richtiges in der zentralen These der Autorin, dass die oktroyierte Bildung von Nationalitätenkategorien künstliche Einheiten geschaffen und traditionale Vielfalt zerstört hat. Die modernen Diktaturen veränderten das Gebiet radikal, das Sowjetregime zerstörte die traditionale Welt, NS-Deutschland hierarchisierte oder vernichtete ganze Gruppen, in gewissem Sinne zielte auch die Organisation Ukrainischer Nationalisten, die sich ab 1941 als revolutionäre dritte Kraft in diesem Raum verstand, in diese Richtung. Doch lassen sich diese Prozesse nicht hinreichend mit Mikrogeschichten analysieren, welche bisweilen einen eher impressionistischen Eindruck hinterlassen. Die permanente Icherzählung der Autorin von ihren Recherchereisen, die das Buch durchzieht, gibt dem ganzen eher den Charakter eines quellengestützten Essays: anregend, aber nicht immer überzeugend. Wer eine Geschichte der Gesellschaft in diesem Raum sucht, die präzise und differenziert rekonstruiert und analysiert, der muss auf andere Bücher warten.


Anmerkung:

[1] Amir Weiner: Making Sense of War. The Second World War and the Bolshevik Revolution, Princeton 2001 (mit regionalem Schwerpunkt in diesem Gebiet).

Dieter Pohl