Holger Afflerbach: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs; Bd. 92), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 983 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-99399-5, EUR 95,00
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"Die nun folgenden Kapitel", schreibt Holger Afflerbach zu Beginn seiner Darstellung der engeren Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, "werden sich verstärkt mit der österreichischen Politik auseinandersetzen müssen, weil von hier wesentliche Impulse ausgingen, die 1908 und 1912/13 zu europaweiten Krisen, 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten" (595). Man sollte meinen, diese Aussage sei nicht weiter bemerkenswert, begann doch der Krieg 1914 mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und dem einen Monat später erfolgten Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien. Sie ist es aber doch, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, weil sich die historische Forschung lange Zeit darauf geeinigt hatte, bei der Suche nach den Gründen für den Krieg besser beim Deutschen Reich zu beginnen. Zum anderen, weil Afflerbach in der Folge die Ursachen vor allem in den politisch-diplomatischen Aktionen in den Jahren und Monaten vor dem Kriegsausbruch sucht und weniger, wie zuletzt meist geschehen, in tieferen, längerfristigen bzw. strukturellen Momenten.
Seit seinem Erscheinen 2002 hat Afflerbachs Buch so auch Widerspruch hervorgerufen. Insbesondere wurde kritisiert, dass damit ein zu positives Bild des internationalen Systems vor 1914 gezeichnet werde. Nicht diplomatische Fehler oder Misskalkulationen hätten den Krieg in einem ansonsten leidlich stabilen außenpolitischen Umfeld ausgelöst. Die internationalen Beziehungen selbst seien 1914 längst durch Wettrüstungen, Militarismus, Nationalismus sowie innere und äußere Konflikte grundlegend destabilisiert gewesen, Krieg vor allem die Folge davon. [1] Mit den eingangs genannten Grundtendenzen seiner Darstellung steht Afflerbach in der neueren Forschung allerdings nicht allein. Auf friedliche Aspekte ist gerade in den letzten Jahren immer wieder hingewiesen worden, und auch die Relativierung der Bedeutung der deutschen Politik für die internationalen Beziehungen vor 1914 kennzeichnet eine Reihe von Neuerscheinungen. Afflerbachs Buch zeigt so auch exemplarisch zwei wichtige neue Richtungen in Arbeiten zum internationalen Systems bzw. der deutschen Außenpolitik vor 1914. [2]
Jenseits von etwaigen Kontroversen ist Afflerbachs Buch aber zunächst einmal eine umfassend angelegte Geschichte des Dreibundes von seinen Anfängen bis zu seinem Ende im Jahr 1915. Dabei wird die Allianz bis 1908 anhand von drei Phasen untersucht: Einer ersten bis 1887, in der vor allem Italien darum gerungen habe, innerhalb und mithilfe des Dreibundes seine Stellung als anerkannte, gleichberechtigte Großmacht zu sichern. Einer zweiten bis 1896, in welcher der Dreibund aufgrund des italienisch-französischen Gegensatzes besonders stabil wirkte, in der dadurch und wegen der kolonialpolitischen Aktivitäten Italiens in Ostafrika aber auch der grundsätzlich defensive Allianzgedanke des Bundes, so Afflerbach, überdehnt worden sei. Schließlich einer dritten Phase bis zur bosnischen Annexionskrise, die durch die italienisch-französische, aber auch eine österreichisch-russische Annäherung gekennzeichnet war. Darüber hinaus sorgten nun verstärkt österreichisch-italienische Zwischenfälle dafür, dass immer wieder die grundsätzliche Frage nach dem Sinn des Dreibundes aufkam.
Insgesamt bescheinigt Holger Afflerbach der Allianz jedoch eine erstaunliche Stabilität. Trotz aller Rivalitäten und Interessensgegensätze zwischen Italien und Österreich-Ungarn, der Tatsache, dass beide Bündnispartner massiv gegeneinander rüsteten oder dass das Italienbild in Deutschland und insbesondere in Österreich denkbar schlecht war, und der südliche Nachbar von der Habsburger Diplomatie und Politik entsprechend herablassend behandelt wurde, "war es", so Afflerbach, "für die verbündeten Regierungen immer noch vorteilhafter", an dem Bündnis "festzuhalten, als es aufzugeben" (591). Dabei machte der Dreibund den österreichisch-italienischen Gegensatz, "so katastrophal dieser auch war, immerhin kontrollierbar" (589). Auch in anderer Hinsicht betont Afflerbach durchgehend die defensive, friedenserhaltende Ausrichtung der Allianz. Trotz der Erweiterung des Vertragstextes um die Kompensationsklausel von 1887 habe der Bund eben keinen Offensivcharakter angenommen. In der diplomatisch-politischen Praxis hätten weder Italien noch Österreich oder Deutschland den Vertrag offensiv instrumentalisieren können, eher sei das Gegenteil der Fall gewesen. Gleichzeitig wertet Afflerbach die Allianz, die in der bisherigen Geschichtswissenschaft ja eher stiefmütterlich behandelt worden ist, damit auch in ihrer Bedeutung für die internationalen Beziehungen im Imperialismus auf. Vor allem für das europäische Gleichgewicht sei das Bündnis von hohem Wert gewesen, und das hätten auch die Zeitgenossen gewusst.
Zu diesen Ergebnissen kommt Afflerbach aufgrund umfassender Recherchen, gleichermaßen in deutschen wie italienischen und österreichischen Archiven. Im Mittelpunkt der Argumentation stehen politisch-diplomatische Aspekte. Geschickt strukturiert er dabei seine trilaterale Untersuchung dadurch, dass er abschnittsweise jeweils ein Land zum Ausgangspunkt seiner Darstellung macht. Dabei werden dann auch ausführlich innen- sowie gesellschaftspolitische Aspekte einbezogen. Die drei ersten Phasen in der Geschichte des Dreibundes werden so in drei ungefähr gleich langen Kapiteln umfassend dargestellt.
Den sechs Jahren zwischen 1908 und 1914 gibt Afflerbach mit allein etwa 250 Seiten dann noch etwas mehr Raum. Den großen Linien seiner Darstellung weiter folgend, betont er dabei vor allem die friedlichen Tendenzen und Stimmungen der Jahre vor 1914. Und das habe auch für die deutsche politische Führung zu gelten: Diese habe keinen großen Krieg gewollt und sich ebenso bis 1914 "in allen Zweifelsfällen, auch bei günstiger militärischer Ausgangslage [...] für friedliche Konfliktlösungen entschieden" (822). Entsprechend hebt Afflerbach die kurzfristigen Gründe für die Kriegsentscheidung hervor. Krieg sei "als Resultat schwerer diplomatischer Fehler und Fehleinschätzungen" (826) ausgebrochen.
Das ist stark pointiert. Der Vorwurf, damit falle die Darstellung hinter vorliegende Ergebnisse zurück, greift dennoch zu kurz. Afflerbach berücksichtigt diese durchaus, freilich kritisiert er sie als unzureichend bzw. auch als verfehlt. "Die vielbeschworenen, zur Erklärung natürlich unverzichtbaren tieferen Gründe stellten Potentialität her: Der Erste Weltkrieg war ein mögliches, aber kein zwangsläufiges und sogar eher ein unwahrscheinliches Resultat der damaligen Ordnung" (826). Es müsse gefragt werden, "ob nicht die an sich völlig berechtigte Suche nach den tieferen Ursachen des Ersten Weltkrieges einen Determinismus in die Ereignisse hineininterpretiert hat, der zu einseitig die langfristigen Strukturen und nicht die unmittelbaren Vorgänge des Sommers 1914 für die tatsächlichen Abläufe verantwortlich macht" (817).
Afflerbachs Tendenz, nicht alle Entwicklungen der internationalen Beziehungen vor 1914 unbedingt darauf zu befragen, welche Rolle die deutsche Politik darin spielte, zeigt sich schon vor seiner Darstellung der Annexionskrise. Ungeachtet der katastrophalen Fehler und der enormen Risikobereitschaft der deutschen Führung, müssen, so sein Hinweis, bei der grundsätzlichen Umgestaltung des Bündnissystems seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts Faktoren beachtet werden, auf die die Reichsleitung schlicht keinen Einfluss hatte. Dazu gehört, dass für die führenden Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien und Russland unter dem Gefühl der Überforderung auch ganz ohne deutsches Zutun eine Annäherung vernünftig und wünschenswert erscheinen konnte: "Bei der Begründung, warum das Deutsche Reich zunehmend in die Isolation geriet, müssen nicht nur die Fehler der Berliner Diplomatie, sondern auch die davon unabhängigen Entscheidungen der anderen Mächte Berücksichtigung finden", insbesondere die "von der deutschen Haltung unabhängigen Motive der britischen Politik, nämlich die Sicherung des Empire vor dem 'overstretching', die London zum Ausgleich mit Frankreich und Rußland veranlaßte". (583) In der Darstellung der Julikrise wird dann - ebenfalls in Übereinstimmung mit neueren Arbeiten - neben der deutschen vor allem die österreichische Führung kritisiert, diese wahrscheinlich noch massiver als die ihres nördlichen Bündnispartners.
Holger Afflerbachs Arbeit erweitert und präzisiert unsere Kenntnisse der internationalen Beziehungen in der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg erheblich. Für seine These, dass der Dreibund bei der Interpretation der internationalen Beziehungen im Imperialismus stärkere Beachtung finden sollte, liefert er bedenkenswerte Argumente. Auch der seiner Interpretation des Kriegsausbruchs zugrunde liegende Hinweis auf die deeskalierenden Momente vor 1914 ist berechtigt und entspricht der Quellenlage. Allerdings geht Afflerbach mit seiner Betonung friedenserhaltender Tendenzen auch sehr weit. Entsprechende Phänomene sind ohne Zweifel deutlich, und sie haben auch Niederschlag in den Wahrnehmungen, Kalkülen und Handlungen der Akteure gefunden. Dass Anfang Juli 1914 in Berlin und Wien ein großer Krieg in Folge der Ereignisse von Sarajevo "offenbar doch für sehr unwahrscheinlich gehalten wurde" (833), wird man jedoch kaum behaupten können, und auch dass die Allianzen das "störanfällige europäische Balance-of-power-System insgesamt sicherer gemacht" (824) hätten, ist so zu bezweifeln. In Zukunft wird dennoch deutlicher auf die Verbindung bzw. Wechselwirkung von langfristigen und kürzerfristigen Ursachen sowie von Eskalation und Deeskalation hinzuweisen sein. [3] Das gilt für das Verhältnis zwischen den beiden diplomatischen Blöcken, aber gerade auch für die Rückwirkungen auf die jeweiligen Bündnissysteme von Tripelentente, Zwei- und eben Dreibund. Auch Afflerbachs Einschränkung der Bedeutung der deutschen Politik für die internationalen Beziehungen in den Jahren und Jahrzehnten vor 1914 ist bedenkenswert; sie entspricht im Übrigen ja auch der seit langem erhobenen Forderung, die Forschungen zur Außenpolitik vor 1914 perspektivisch auszuweiten. Wichtig und hervorzuheben ist dabei allerdings, dass Afflerbach hier nicht über das Ziel hinausschießt. In der Julikrise ist er wieder ganz bei der deutschen und österreichischen Politik: Die Österreichs wird als "verbrecherisch leichtsinnig" gekennzeichnet, und auch Bethmann Hollweg müssten, so Afflerbach, die "allerschwersten Vorwürfe" gemacht werden (828 f.).
Anmerkungen:
[1] Volker Ullrich: Ein Weltkrieg wider Willen? Der Streit der Historiker über den Kriegsausbruch 1914 geht in eine neue Runde, in: Die Zeit, 2. Januar 2003. Vgl. Sven Felix Kellerhoff: Spione, überall Spione. Ein Berliner Symposium sucht nach den letzten offenen Fragen des Ersten Weltkriegs, in: Die Welt, 18. Mai 2004.
[2] Für friedliche Tendenzen vor 1914 z. B. auch: Klaus Wilsberg: "Terrible ami - aimable ennemi". Kooperation und Konflikt in den deutsch-französischen Beziehungen 1911-1914, Bonn 1998. Deutlich über das Ziel hinaus schießt: Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999 (engl. 1998). Für die Zurücknahme der deutschen Bedeutung für die internationalen Beziehungen vor 1914: Irmin Schneider: Die deutsche Rußlandpolitik 1890-1900, Paderborn u.a. 2003. Zu stark: Christian Wipperfürth: Von der Souveränität zur Angst. Britische Außenpolitik und Sozialökonomie im Zeitalter des Imperialismus, Stuttgart 2004.
[3] Vgl. auch Klaus Hildebrand: "Staatskunst" und "Kriegshandwerk". Akteure und System der europäischen Staatenwelt vor 1914, Friedrichsruh 2005.
Friedrich Kießling