Rezension über:

Christophe Koller / Patrick Jucker-Kupper (eds.): Digitales Gedächtnis - Archivierung und die Arbeit der Historiker der Zukunft. Mémoire électronique - Archivage et travail des historiens du futur (= Geschichte und Informatik - Histoire et Informatique; Vol. 13/14 (2002/2003)), Zürich: Chronos Verlag 2004, 120 S., ISBN 978-3-0340-0680-4, EUR 21,90
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Rezension von:
Stefanie Krüger
Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaft, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Krüger: Rezension von: Christophe Koller / Patrick Jucker-Kupper (eds.): Digitales Gedächtnis - Archivierung und die Arbeit der Historiker der Zukunft. Mémoire électronique - Archivage et travail des historiens du futur, Zürich: Chronos Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/7334.html


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Christophe Koller / Patrick Jucker-Kupper (eds.): Digitales Gedächtnis - Archivierung und die Arbeit der Historiker der Zukunft

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Der vorliegende Band der Zeitschriftenreihe umfasst acht Beiträge, die auf der Tagung "Digitales Gedächtnis - Archivierung und Arbeit des Historikers der Zukunft" als gemeinsame Veranstaltung des Vereins "Geschichte und Informatik" (G&I) und des Schweizerischen Bundesarchivs am 7.11.2003 in Bern gehalten wurden. Hinweise zu zwei weiteren Vorträgen, die hier nicht abgedruckt wurden, sind im WWW zu finden (die Angabe der URL erfolgt im Vorwort). [1] Die Beiträge sind in Anbetracht des schweizerischen Sprachraums teils in deutscher und teils in französischer Sprache verfasst. Eine Zusammenfassung, welche für fast jeden der einzelnen Beiträge in beiden Sprachen vorliegt, erleichtert den Einstieg in die prägnanten Präsentationen.

Nach dem Vorwort und einer einseitigen Kurzbibliografie und Linksammlung zum Thema gliedert sich der Zeitschriftenband in zwei Teile. Im ersten werden grundsätzliche Überlegungen zu den Chancen und Gefahren bei der elektronischen Archivierung dargestellt und diese in Wechselwirkung mit den damit verbundenen Herausforderungen für Historikerinnen und Historiker sowie Archivarinnen und Archivare gebracht. Der zweite Teil enthält knappe Projektskizzen, in denen konkrete Archivierungsszenarien von öffentlichen Institutionen vorgestellt werden. Alle Artikel beziehen sich auf Projekte und Einrichtungen in der Schweiz; eine Ausnahme bildet die Darstellung von Hans Liegmann, der aus der Perspektive der "Deutschen Bibliothek" schreibt.

Die Beiträge im ersten Teil stellen wichtige Erkenntnisse bei der Betrachtung von Wechselwirkungen zwischen den Berufsbildern der Historikerin und des Historikers sowie der Archivarin und des Archivars dar. Es werden Abhängigkeiten und neu zu definierende Kooperationen aufgezeigt. Diese liegen einerseits in den fachspezifischen Tätigkeiten und andererseits innerhalb der Entwicklung hin zur Informationsgesellschaft und deren Anforderungen begründet (Coutaz, Liegmann, Schärli). Zwischen der gesellschaftlichen und politischen Forderung der Gedächtnis- bzw. Überlieferungsbildung und dem dafür notwendigen hohen Ressourcen- und Finanzbedarf wird nach möglichen Lösungen gesucht (Kellerhals). Weitere Schwierigkeiten ergeben sich durch die neu hinzugekommene Aufgabe der Archivierung einer ständig zunehmenden Masse von Netzpublikationen (Liegmann).

Deutlich wird der Zugzwang, der sich durch die veränderten Bedingungen innerhalb der Informationsgesellschaft in den verschiedenen Berufsgruppen formiert. In dieser Hinsicht werden Überlegungen angeregt, inwieweit es ein Nebeneinander von alten und neuen Kompetenzen geben kann und muss. So wird bei Schärli unter anderem Manuel Castells angeführt, der den Zugang zur "Netzwerkgesellschaft" denjenigen vorhersagt, die bereit sind, die Regeln und Standards der zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel zu akzeptieren - allen Anderen drohe seiner Meinung nach der Ausschluss, wenn sie sich die neuen Technologien nicht aneigneten. Damit erscheinen einschneidende Veränderungen notwendig, wenn nicht sogar unumgänglich: Ein hoher Grad an Interdisziplinarität und kooperatives Arbeiten in Teams zeichnen sich hier stärker denn je als Zukunftsvision ab. Die neuen Aufgabenbereiche und die veränderten Produktions- und Arbeitsprozesse erfordern mehr Kooperationen, fragmentierte Workflows und Ad-hoc-Projektteams.

Neben den dargestellten Herausforderungen in den einzelnen Berufszweigen wird die steigende Bedeutung von offenen Datenformaten und Standards (zum Beispiel XML), Metadaten (zum Beispiel Dublin Core Metadata Initiative), dem Digital Rights Management und beständigen Identifikatoren (wie zum Beispiel URN = Uniform Resource Name oder DOI = Digital Object Identifier) für die Langzeitarchivierung und Sicherung der Interoperabilität hervorgehoben. Dabei wird nicht nur die (Weiter-)Entwicklung von solchen Standards, Formaten und Richtlinien als wichtig eingestuft, sondern deren konkrete Umsetzung und Einhaltung teils sogar politisch gefordert (Liegmann). Dies werden Merkmale sein, anhand derer künftig digitale Editionen für die Publikation und Langzeitarchivierung aufbereitet sein müssen.

Dicht und anregend sind die Überlegungen, Thesen und Szenarien im Beitrag von Thomas Schärli (57-82). Angefangen bei dem Verhältnis zwischen individuellem, kommunikativem, kulturellem Gedächtnis hin zu einem historischen Wissen, beschreibt er anschließend in seinen "Fragmenten einer Vision" (65-69) die Auswirkungen der Netzwerkgesellschaft auf die betroffenen Berufsgruppen sowie eine digitale Grammatik, die dann zu einer kooperativen Form der Wissensproduktion führe. Anhand einschlägiger Werke (zum Beispiel von Humberto Maturana und Francisco Varela, Gregory Bateson, Michael Giesecke, Manfred Thaller und vielen mehr) und der Verflechtung unterschiedlicher Ansätze entwickelt er nicht nur einen theoretischen Rahmen, sondern auch ein praktisches Konzept für Überlieferungsprozesse und Wissensrepräsentation, verstanden als "Records Management Systems". Aus diesem Ansatz entfaltet er ein mögliches Modell für eine künftig sinnvolle Verbindung von Archiven und Forschung im digitalen Zeitalter. Die Art und Weise, wie in dieser Darstellung unterschiedliche Denkansätze zusammengeführt werden, kann richtungweisend für eine kreative und effektive Auseinandersetzung mit den veränderten Herausforderungen im (Post-)Informationszeitalter angesehen werden. In seinen "Metaphern des Überlieferungsgeschehens" (69) werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die unterschiedlichen Fachdisziplinen in ihrem Grad an Spezialisierung und Arbeitsteilung in ihren Problemstellungen und Informationsbedürfnissen einander annähern können, und auf welche Weise der Informationsaustausch maximiert werden kann. Als höchste Ausdifferenzierung wird das "'Rad' der Überlieferung in der Wabenstruktur der 'Netzwerkgesellschaft'" (75) entwickelt, welches auf Grid-Technologien und der Idee des Semantic Web basiert und so allen Beteiligten einen unumschränkten Zugang zu den darin vorhandenen Wissensrepräsentationen gewähren soll.

Kurz wird der Stellenwert des Vergessens genannt (bei Thomas Schärli) - doch mangelt es an einer vertiefenden Betrachtung seiner Bedeutung im digitalen Zeitalter. Außer den Hinweisen auf die unterschiedlichen Gedächtnisformen und der Notwendigkeit eines "organisierten Vergessens" als einer Kernkompetenz der Archivfachleute (68), scheint der Blick bei den anderen Autoren eher nur Null oder Eins zu kennen, den einen oder anderen Zustand: entweder den Supergau des Datenverlustes beim Plattencrash oder die Gigantomanie einer möglichst vollständigen Sammlung jedweder Information. Hilfreich könnten an dieser Stelle vielleicht weiterführende Gedanken zum Gedächtnis und zum Vergessen sein, wie sie unter anderem bei Elena Esposito in ihrem Buch "Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft" entwickelt werden oder Ansätze aus Medienkultur und Kognitionspsychologie. [2] Die sinnvolle Verknüpfung von unterschiedlichem Fachwissen, die hier von einem großen Teil der Autorinnen und Autoren schon geleistet wird, sollte intensiv betrieben werden, um zu echten erweiterten Handlungsoptionen in der Verbindung von Informationstechnologie, Archivarbeit und geisteswissenschaftlichen Methoden zu gelangen.

Im projektorientierten zweiten Teil werden in knapper Form aus unterschiedlichen Anwendungsbereichen reale Szenarien der digitalen Archivierung dargestellt. Die Projektbeschreibungen konzentrieren sich dabei auf die praktischen und technologischen Herausforderungen und schildern zum Teil konkret die eingesetzten Hardwarekonfigurationen und Datenmodelle.

Insgesamt ist der Band eine gelungene Fortsetzung der Reihe "Geschichte und Informatik". Bereits in seinem Vorgängerband "Geschichte und Internet. Raumlose Orte - Geschichtslose Zeit" waren Beiträge sowohl zu den Themen Digitalisierung und Archive als auch zum Komplex des neuen Arbeitsumfeldes in Forschung und Archivierung / Dokumentation enthalten. Damit ist der vorliegende Band eine Weiterführung der bereits dort eingeführten Themen.

"Was heisst es für die Geschichtsschreibung, wenn sie nur noch elektronisch verfügbare Quellen berücksichtigt?" (10) - Dieser im Vorwort explizit gestellten und durchaus sehr bedeutenden Frage wird leider in den Beiträgen nur indirekt Rechnung getragen. Die Expertinnen und Experten befassen sich stärker mit der Archivierung und deren formalen und strukturellen Problemen. Auch wenn immer wieder auf die Verflechtung mit dem Berufsfeld der Historikerinnen und Historiker hingewiesen wird und die anstehenden Veränderungen innerhalb der betroffenen Berufsgruppen greifbar im Raum stehen - hier wäre die historische Fachsicht auf den Umgang mit den digitalen Inhalten sicherlich eine wünschenswerte Ergänzung gewesen. Dabei würden sich zum Beispiel spannende neue Perspektiven über die Frage nach dem Verbleib und der Rekonstruktion des Originals beim digitalen Archivierungsprozess eröffnen: Gibt es ein "'körperliches' Werk" (50) als Original oder liegt das Original bereits nur in digitaler Form vor? Wie kann die Historie eines digitalen Archivobjektes dokumentiert werden? Wie verändert sich das digital archivierte Objekt gegenüber seiner Originalversion? Welche Bedeutung erhält hier der Begriff der Authentizität? Müssen wir vielleicht in Zukunft davon ausgehen, nie wieder ein Original in Händen halten zu können? All dies sind Aspekte, die von der Zunft der Historikerinnen und Historiker reflektiert werden sollten.

Man darf daher gespannt sein, welche Themen im kommenden Band angesprochen werden. Es steht jedoch fest, dass diese Zeitschrift mit ihrem Fokus auf einen wichtigen Diskussionsbedarf innerhalb der betroffenen Scientific Communities hinweist, der auf keinen Fall als Nebenschauplatz belächelt werden sollte.


Anmerkungen:

[1] Hierbei handelt es sich um die Vorträge von Stéphane Koch über die Risiken von Informatik und Internet; URL: http://www.intelligentzia.ch/menu/submenu/doc/publications_presse_comm_010403.html und Peter Keller-Marxer über das Projekt "Archivierung elektronischer digitaler Daten und Akten der Bundesverwaltung im Schweizerischen Bundesarchiv" (ARELDA); URL: http://www.bar.admin.ch/webserver-static/docs/d/arelda_expose_0301_d.pdf.

[2] Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002.

Stefanie Krüger