Gauvin Alexander Bailey: Art of Colonial Latin America, Berlin: Phaidon Verlag 2004, 448 S., 240 Farb-, 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-7148-4157-1, EUR 24,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Wollte man die Kunst der Frühen Neuzeit in Europa auf 450 Seiten abhandeln, das Ergebnis würde sicher nicht in diesem Rezensionsorgan besprochen. Bei einer Kunstgeschichte Lateinamerikas von Gauvin Alexander Bailey ist das anders. Das sagt zum einen sehr viel über den Autor des Werkes, zum anderen etwas über die Forschungslage hier zu Lande aus. Gauvin Alexander Bailey ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der internationalen Kunstpatronage des Jesuitenordens, und seine mit hervorragenden Farbaufnahmen bebilderte Studie bietet einen Überblick über die Kunst eines Kontinents, der bisher in Europa nur von einer Minderheit überhaupt wahrgenommen wird.
Diese enorm weite Perspektive ist zunächst nicht ganz unproblematisch: Die chronologischen Differenzen in der Entwicklung einzelner Kulturen in Lateinamerika sind sowohl vor als auch in der Kolonialzeit sehr groß. Ähnlich wie die prähispanischen Gesellschaften etwa der Olmeken und der Inka differieren auch die Kolonialisierungsprozesse in Chile und Neuspanien (Mexiko) zeitlich so stark, dass sie nur schwer gemeinsam darstellbar sind. Im ersten Kapitel, in dem die prähispanischen Kulturen kurz skizziert werden, um die Situation vor der Ankunft der Europäer in Erinnerung zu rufen, ist eine chronologische Entwicklung auf der geringen Zahl von Seiten daher nicht mehr darstellbar. Es bleibt bei einem Benennen einzelner Höhepunkte, die dann allerdings auch sehr disparat bleiben. Beispiele wie das Gesicht eines lachenden Mannes einer Moche-Keramik, die 400-500 v. Chr. datiert wird, sind jedoch so eindrucksvoll, dass sie den Leser zu einer weiteren Beschäftigung mit der amerikanischen Antike motivieren dürften, womit das erklärte Ziel der Serie von Phaidon Press erreicht wäre, renommierte Forschung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Im Hauptteil der Studie findet Bailey dann allerdings einen methodischen Zugriff, der dieses Problem nicht nur löst, sondern die breite, vergleichende Perspektive für den Leser sogar wirklich fruchtbar macht. Die These des Autors lautet, dass die Kunst in den Kolonien eng an religiöse, politische und soziale Funktionen gebunden war und die Entwicklung zum autonomen Kunstwerk erst spät einsetzte. Daher spielten etwa auch druckgrafische Vorlagen eine große Rolle, während Zeichnungen als Ausdruck der künstlerischen Idee und Originalität in den Produktionsprozessen lange keine größere Bedeutung hatten. Folgerichtig gliedert Bailey seine Überblicksdarstellung in eine Kunstgeschichte nach Funktionen. Er widmet seine Untersuchung vor allem vier verschiedenen Gruppen von Auftraggebern, die in der Kolonialzeit dominierten: Die Missionsorden zum Ersten, die von der politischen Verwaltungsstruktur weitgehend unabhängig operieren konnten, im Gegensatz zu den Bischöfen zum Zweiten, die direkt vom spanischen oder portugiesischen König ernannt wurden und deren Rolle als Auftraggeber, etwa im Kathedralbau, in einem eigenen Kapitel analysiert wird. Zwei weitere Abschnitte beschreiben die Kunst, mit der sich die Vizekönige umgaben, und die Rolle der städtischen Aristokratie als kultureller Elite.
Gerade bei dieser Gliederung, die Kunstwerke mit ähnlichen Funktionen in verschiedenen Ländern erläutert, führt die vergleichende Perspektive zu interessanten Ergebnissen, zum Beispiel in der Analyse des Städtebaus in Lateinamerika: Während in Brasilien portugiesische Festungen zur Sicherung von Handelsplätzen entstanden, sodass dort unregelmäßige, gewachsene Siedlungsstrukturen zu finden sind, wurden in den spanischen Vizekönigreichen repräsentative Verwaltungssitze mit regelmäßigem Straßenraster gegründet.
An den Anfang stellt Bailey jedoch die Untersuchung der Rolle der Indigenen in der kolonialen Gesellschaft. Die Kontinuität indigener Elemente in der Kunstproduktion stand in den letzten Jahren im Zentrum der Forschung. Bailey lokalisiert und datiert diese Phänomene sehr genau: In den städtischen Zentren, den Metropolen, waren Motive prähispanischer Kulturen schon nach fünfzig Jahren kaum noch anzutreffen. Die indigenen Traditionen blieben vor allem in der Frühzeit und später überwiegend im Bereich der Peripherie lebendig. Anders fiel die Rezeption dagegen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert aus, als Zeichen indigener Kultur bewusst zitiert wurden, um von Seiten der kolonialen Eliten die eigene Identität zu stärken und die Abgrenzung vom Mutterland voranzutreiben. Insgesamt mahnt Bailey in diesem Kapitel davor, vorschnell von Kontinuitäten auszugehen. Die so genannten "mestizo"-Fassaden in Peru etwa sind mindestens einhundert Jahre nach der Eroberung entstanden, sodass eine Kontinuität prähispanischer Stilmerkmale unwahrscheinlich ist, man eher von einem bewussten Formzitat ausgehen muss. Am Beispiel der Darstellung der Virgen del Cerro Rico in Potosí als Berg zeigt Bailey sehr deutlich, dass es weder sinnvoll ist, von einer Inkagöttin Pachamamma zu sprechen noch von einer Maria, wie sie in Europa verehrt wurde, sondern dass man hier einen neuen andinen Madonnenkult vor sich hat. Auf der Suche nach den Quellen und den Ursprüngen, die einen "reinen" Kulturbegriff voraussetzt, wird in der Forschung häufig das Neue der kolonialen Kulturen übersehen, das mehr ist als eine Addition von "Teilkulturen" des Indigenen oder des Europäischen.
Bailey analysiert seinem sozialgeschichtlichen Ansatz folgend nicht nur verschiedene Gruppen von Auftraggebern, sondern auch die Künstler und ihre Produktionsbedingungen, die häufig von rassistischen Beschränkungen und Hierarchien in der Gesellschaft geprägt waren. So wurde etwa Künstlern, die nicht der weißen Schicht angehörten, häufig die Aufnahme in Zünfte verweigert, und sie wurden geringer geschätzt als europäische oder kreolische Künstler. Zum Teil wurden diese Regeln aber auch wieder unterlaufen. Dies zeigt etwa die Karriere von Juan Correa, einem afromexikanischen Maler des 18. Jahrhunderts, oder die Entstehung von Zünften für Indigene um 1700 in Cuzco. In den Akademien des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die rassistische Diskriminierung dagegen wieder weit restriktiver gehandhabt.
Neben der Künstlerausbildung thematisiert Bailey auch die besonderen Techniken und Materialien, die aus den lokalen Gegebenheiten heraus entwickelt wurden, sowie neue Produktionsformen in den Kolonien, etwa das erste Erscheinen von Massenproduktion und arbeitsteiligem Vorgehen unter den Bildhauern von Quito im 18. Jahrhundert, die einzelne Körperteile von Heiligenfiguren für den Export fertigten, so das diese dann im Zielland, Europa oder anderen Ländern in Lateinamerika, nur noch mit einem Torso und Kleidern versehen werden mussten. Auch Kuriositäten werden erwähnt, wie der mit Porzellanscherben inkrustierte Turmhelm der Kirche in Cachoeira in Brasilien, der zum Ausdruck bringt, in wie großer Zahl und damit billig chinesische Importware nach Brasilien kam.
Insgesamt sind es vor allem die vielen kulturgeschichtliche Details, welche die Lektüre des Buches spannend und kurzweilig machen. Die Rolle der Frau in der kolonialen Gesellschaft, etwa der höfische Lebensstil vieler Nonnen, wird ebenso thematisiert wie die zahlreichen Feste, die Einzüge der Vizekönige oder die religiösen Corpus-Christi-Umzüge, aber auch der Konsum von Schokolade und Mate in den Städten. Das Leben des städtischen Patriziats mit seinen kostbaren Möbeln, Silbergefäßen, Textilien und Keramiken wird bis hin zu den tragbaren Hausaltären geschildert, die beim saisonalen Umzug vom Stadtpalast zum Landsitz mitgeführt werden konnten.
Vor allem in diesem Abschnitt ist evident, weshalb Bailey zu Recht im vorletzten Kapitel eine vergleichende Kunstgeschichte der kolonialen Kulturen in Lateinamerika und Asien anregt. Die asiatische Modelle imitierenden Lackarbeiten und Wandschirme, die so genannten biombos, im Besitz des städtischen Adels legen von den engen Beziehungen zwischen den Ländern Zeugnis ab, die nicht nur durch regen Warentausch sowie durch die gemeinsame Beziehung zum Mutterland Spanien beziehungsweise Portugal verbunden waren, sondern auch durch ihre ähnlichen Sozialstrukturen. Im Bewusstsein der kreolischen Eliten war diese Parallele sogar so weit verankert, dass asiatische Motive ebenso wie Anspielungen auf die prähispanische amerikanische Vergangenheit Symbole für eine politische Emanzipation "beider Indien" abgeben konnten.
Die Handhabung dieses materialreichen Bandes erleichtern abschließend ein Glossar mit Fachbegriffen der lateinamerikanischen Kunstgeschichte, eine Zeittafel, Kurzbiografien der Künstler, eine - leider nur kurze - Bibliografie und ein Index. Da das Buch keine Fußnoten hat, benennt Bailey Autoren, die mit wegweisenden Thesen (etwa George Kubler) oder Begriffen (z. B. mestizo von Ángel Guido) hervorgetreten sind, nur kurz im Text. An einigen Stellen verweist der Autor explizit auf neueste Forschungsarbeiten. Hier ist es sehr zu bedauern, dass der Verlag sich für diese Form entschieden hat. Es wäre sehr aufschlussreich gewesen, dem Kenner Bailey in den "Karteikasten" zu schauen, da besonders im Bereich der Kolonialkunst Lateinamerikas bibliografische Nachweise nicht immer leicht zu finden sind, wird doch die lokale Forschung häufig nicht von den gängigen europäischen oder nordamerikanischen Bibliografien erfasst.
Das Buch endet mit einem interessanten Ausblick auf die Rezeption der kolonialen Vergangenheit in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Nostalgische Stilisierung einerseits und Kritik an den kolonialen Unterdrückungsstrukturen von Kirche und Krone andererseits changieren hier bis in die jüngste Zeit. Damit schlägt das Buch eine Brücke zu den Schatten, welche die koloniale Vergangenheit in unsere globalisierte Gegenwart wirft.
Margit Kern