Eric D. Weitz: A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2005, 368 S., ISBN 978-0-691-12271-7, USD 19,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Völkermorde kennt die Geschichte seit biblischen Zeiten, doch erst das vergangene Jahrhundert hat sie zum grausamen Signum eines ganzen Zeitalters werden lassen. Warum brachte ausgerechnet das 20. Jahrhundert, das doch eine Epoche atemberaubender Zivilisationsfortschritte auf so vielen Gebieten war, eine so schrecklich gesteigerte, zuvor unvorstellbare Dimension und Systematik bei der Vernichtung ganzer Völker mit sich? Dass der Holocaust in diesem Zusammenhang einen einzigartigen Tiefpunkt menschlichen Verhaltens und deutschen Versagens dargestellt hat, ist ebenso unstrittig wie die Tatsache, dass es - beginnend mit dem Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg - weitere, andere Formen des organisierten und systematischen Völkermordes gegeben hat. Die Frage, ob und wie man diese mit dem Holocaust vergleichen kann, ob ein solcher Vergleich die Dimensionen der Shoah ungebührlich relativiert oder eher zu einem tieferen Verständnis dieses wie der anderen Massenverbrechen beiträgt, wird bekanntlich sehr kontrovers diskutiert. Wer - nicht zuletzt unter dem Eindruck jüngster Massenmorde in Ruanda oder einer auch in Europa neuerlich erwachten Politik der "ethnischen Säuberungen" - auf diese durchaus heikle Frage eine seriöse, unaufgeregte Antwort sucht, wird mit Gewinn die Studie des amerikanischen Historikers Eric D. Weitz zur Hand nehmen.
Gegenstand seines systematischen, methodisch überzeugend fundierten Vergleichs sind die stalinistische Sowjetunion, das nationalsozialistische Deutschland, das Kambodscha der Roten Khmer und das Serbien Slobodan Miloševićs. Alle vier und weitere, von Weitz nicht näher behandelte Regime (das armenische Beispiel wird immerhin kurz im Prolog geschildert, Ruanda wiederholt erwähnt) haben im Sinne der Definition der 1948 von der UN verabschiedeten Völkermord-Konvention Völkermord begangen, indem sie absichtlich bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Gänze oder in Teilen zu vernichten versucht haben. Was veranlasste sie dazu? Was verband, was unterschied diese historisch jeweils singulären Genozide? Welche Strukturen und Elemente der Moderne lagen ihnen gemeinsam zu Grunde, welche historisch gewachsenen Besonderheiten prägten ihre individuellen Formen und Dimensionen?
Als den entscheidenden gemeinsamen mentalen Untergrund, auf dem die analysierten - und weitere - Formen von Völkermord aufbauten, sieht Weitz die im Prozess der Moderne "erfundenen" Kategorien "Rasse" und "Nation". Dabei geht er keineswegs von einer unmittelbaren, direkten Verbindungslinie zwischen diesen Kategorien und dem Völkermord aus, habe es doch zahlreiche "rassistische" und "nationalistische" Systeme gegeben, die "lediglich" diskriminatorisch und nicht völkermörderisch gewesen seien. Dennoch, so sehr jedem einzelnen der beschriebenen Fälle weitere, spezifische historische Faktoren zu Grunde gelegen hätten, die Kategorien "Rasse" und "Nation" seien letztlich jedes Mal die zentrale, die entscheidende Wirkungsmacht gewesen. In einer konzisen, die Erkenntnisse der modernen Forschung souverän auf den Punkt bringenden Reflexion, einer "intellectual history of Race and Nation", vermittelt Weitz daher einleitend anschaulich, wie diese Kategorien seit der Frühen Neuzeit - ursprünglich durch die Begegnung der europäischen Kolonisten mit amerikanischen und afrikanischen Ureinwohnern - aktiviert wurden, allmählich an Form und immer größerer Bedeutung gewannen und schließlich seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert als quasi natürlich gegebene Selbstverständlichkeiten nicht mehr hinterfragt wurden.
Mit dieser wichtigen Vorklärung versehen wird der Leser sodann in vier überschaubaren und klar, weil gleichartig und übersichtlich strukturierten Kapiteln mit jenen Elementen vertraut gemacht, die in ihrer Kombination jeweils zum Genozid geführt haben. In einer meisterhaften Kombination von Narration und Analyse schildert der Verfasser auf der Basis des neuesten Forschungsstandes und (im sowjetischen und deutschen Fall) eigener unmittelbarer Quellenstudien für jeden Fall erstens die ideologischen Rahmenbedingungen und Zielsetzungen des völkermordenden Regimes ("Power and Utopia"), zweitens die Methoden und Mechanismen der sozialen, nationalen und rassischen Kategorisierung und Klassifizierung der Bevölkerung ("Categorizing the Population"), drittens die Formen und Techniken des Völkermordes (als eine zweiphasige Entwicklung in "Purging the Population" und "The Ultimate Purge" differenziert), schließlich viertens die Rituale des Völkermordes ("Rituals of Population Purges"), ehe jedes Fallbeispiel in einer luziden Zusammenfassung resümiert und das Ganze in einem Abschlusskapitel auf hohem Niveau zusammengeführt wird.
Im Vergleich der vier behandelten Beispiele werden am Ende nicht nur die Unterschiede und Besonderheiten des sowjetischen Großen Terrors, des Holocaust, der Revolution der Roten Khmer und der ethnischen Säuberungen im zerfallenden Jugoslawien sichtbar und damit jeder einzelne Völkermord in seiner historischen Singularität erkennbar. Weitz' Vergleich fördert auch eine Reihe verblüffender Gemeinsamkeiten zu Tage, die strukturelle Verbindungslinien erkennen lassen. So war jedes der völkermordenden Regime von einer revolutionären Utopie besessen und von dem Wunsch angetrieben, eine radikal neue Gesellschaft zu schaffen. Als das zentrale Instrument diente dazu der Staat, mit dessen Hilfe die Vision einer besseren Zukunft, einer egalitären, sozial, wirtschaftlich, national und rassisch vollkommen homogenen Gesellschaft mit aller Macht und Brutalität in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte. In keinem Fall trat der Völkermord plötzlich und überraschend ein. Er entwickelte sich vielmehr allmählich und aus 'harmloseren' Formen der Diskriminierung und Exklusion von als sozial, national oder rassisch "anders" definierten Bevölkerungsgruppen. So hart und brutal solche Diskriminierung und Ausgrenzung gewesen sein mochte, sie allein führte noch nicht automatisch zum Genozid. Der Umschlag von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung zu einem systematischen, nota bene nur im deutschen Fall aufgrund einer hoch entwickelten Bürokratie und Technik industrialisierten Völkermord trat vielmehr erst in Augenblicken extremer sozialer - zumeist selbst generierter - Krisen ein, wie sie Revolutionswirren, Totaler Krieg und Staatsauflösung mit sich brachten. Waren die beschriebenen Völkermorde auch in allen Fällen das Ergebnis staatlicher Politik, so erlangten sie ihre spezifische moderne Dimension schließlich auch erst durch die massenhafte Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung. Denunziation, passive und aktive Mitwirkung, mögen sie aus bequemer Anpassung, enthusiastischer Unterstützung oder einer der zahllosen Verhaltensformen dazwischen erfolgt sein, bildeten ein wesentliches Element der extensiven und systematischen Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen und Völker.
Der im Zweiten Weltkrieg von dem polnisch-jüdischen Völkerrechtler Raphael Lemkin (1901-1959) geprägte Begriff "Völkermord" ist in jüngerer Zeit wiederholt als allzu breit und unscharf kritisiert und als heuristisches Erkenntnisinstrument verworfen worden. Weitz hat ihn jedoch überzeugend als einen konstruktiven Ausgangspunkt für eine beeindruckende Studie gezeigt, die nicht nur unsere Einsichten in die Ursachen und Zusammenhänge der untersuchten - auf den ersten Blick jeder rationalen Erklärung entzogenen - Völkermorde erweitert, sondern auch Anhaltspunkte für die Deutung paralleler "Fälle" und Merkmale benennt, die als "Warnsignale" für eine Früherkennung potenzieller "Völkermorde" ernst genommen werden sollten.
Eduard Mühle