Zdenek V. David: Finding the Middle Way. The Utraquists' Liberal Challenge to Rome and Luther, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2003, XXII + 579 S., ISBN 978-0-8018-7382-9, USD 65,00
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Jeder Historiker, der schon einmal versucht hat, in die Finessen der böhmischen Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit einzudringen und sich dabei rettungslos im Gewirr von (Alt- und Neu-)Utraquisten, Brüdern und tschechischen Lutheranern verloren hat, wird die klaren Thesen des vorliegenden Buches zu schätzen wissen. Zdeněk David hat eine in weiten Teilen sehr gut lesbare Studie vorgelegt, die sich mit dem Utraquismus in Böhmen im 16. Jahrhundert befasst und nichts Geringeres anstrebt als eine umfassende Revision der bisherigen negativen Urteile, die von der Geschichtsschreibung in den letzten hundertfünfzig Jahren über dieses Bekenntnis gefällt wurden. Die letzte ähnlich umfangreiche Studie zum Utraquismus stammt von Ferdinand Hrejsa und ist bereits 1912 erschienen:[1] In Hrejsa sieht David auch den Hauptverantwortlichen für die von der Historiografie bis heute überwiegend geteilte Ansicht, mit dem Vordringen des Luthertums habe sich der Utraquismus in einen konservativen und einen fortschrittlichen Zweig gespalten. Die konservativen Altutraquisten hätten sich nur durch die Kommunion sub utraque von den Katholiken unterschieden und die institutionelle Vereinigung des utraquistischen Konsistoriums mit dem Erzbistum angestrebt, während bei den Neuutraquisten lutherische Grundsätze mit hussitischen Propria verschmolzen seien.
Bereits in der Einleitung gibt David die Richtung vor, die seine Untersuchung in den folgenden zwölf chronologisch geordneten Kapiteln einschlägt. Seiner Ansicht nach hat die utraquistische Kirche im Jahrhundert nach der Reformation eine mit dem Anglikanismus vergleichbare "via media" zwischen Protestantismus und Katholizismus beschritten. Pointiert bezeichnet David den Utraquismus als Konfession, die der Reformation und der Konfessionalisierung bis zur Niederlage der böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg 1620 erfolgreich ihre eigene dogmatische und quantitative Stärke entgegensetzte. Zur Untermauerung dieser zentralen These von der Unverändertheit des Utraquismus zieht er in erster Linie Werke utraquistischer Theologen, zeitgenössische religiöse Polemiken sowie die bisher unter religiösen Aspekten kaum ausgewerteten großen Editionen zur böhmischen Geschichte heran,[2] da kaum ungedrucktes utraquistisches Schriftgut die Jahrhunderte überdauert hat.
Auf die Darstellung der älteren Historiografie folgt die Rekapitulation der deutlich besser erforschten ersten hundert Jahre des Utraquismus (1415 bis 1517), in denen sich die Ecksteine der liberalen utraquistischen Ekklesiologie herausbildeten, nämlich die theologische Offenheit gegenüber dem rationalen Argument und die Ablehnung der römischen Autorität im Bereich von Administration und Jurisdiktion. David setzt sich anschließend mit der Reaktion der Utraquisten auf die Reformation im Reich auseinander und kommt zu dem Schluss, dass das Luthertum keineswegs eine unwiderstehliche Anziehungskraft entwickelt habe. Luther habe zwar dabei geholfen, die böhmische Isolation in Europa aufzubrechen, aber die Mehrheit der böhmischen Utraquisten konnte seine theologischen Ansichten nicht teilen. Vielmehr sei in Abgrenzung zur protestantischen Revolution ein bewusstes Anknüpfen an die utraquistischen Wurzeln in der böhmischen Reformbewegung des 14. und 15. Jahrhunderts erfolgt.
In den besonders aufschlussreichen Kapiteln 4 und 5 analysiert David die Werke der utraquistischen Theologen Bohuslav Bílejovský und Pavel Bydžovský, denen er eine Schlüsselrolle für das Verständnis des Utraquismus in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zuspricht. Er zeigt Bílejovskýs Einstellung gegenüber Rom (zu autoritär), der Brüderunität (zu radikal in ihrem Biblizismus) und der Orthodoxie (exotisch und bizarr) und nutzt Bydžovskýs Ausführungen, um am Beispiel von Kinderkommunion, Fronleichnamsprozessionen, Heiligen- und Bilderverehrung die wesentlichen dogmatischen und liturgischen Unterschiede zwischen Utraquismus und Luthertum in Böhmen sowie die utraquistische Ablehnung des sola-fide- und des sola-scriptura-Prinzips herauszuarbeiten. Die respektvolle Erwähnung Luthers und das Interesse am Luthertum in den utraquistischen Werken ist nicht gleichbedeutend mit der Übernahme der Doktrin, wie die ältere Literatur vermutet hatte, sondern spricht nach David gerade für die innere Stabilität des Utraquismus in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Diese Stabilität konnte auch das 1561 erneuerte Prager Erzbistum nicht ins Wanken bringen, denn obwohl sich die Utraquisten als Teil der "allgemeinen katholischen Kirche" verstanden, lehnten sie die päpstliche Autorität im institutionellen Bereich ab und fürchteten einen vereinnahmenden Zugriff der römischen Kirche auf die eigene Verwaltung und Jurisdiktion.
In einem zentralen Kapitel beschäftigt sich David mit der Analyse der Böhmischen Konfession von 1575, die von der älteren Forschung als Beleg für das endgültige Verschwinden des Utraquismus gewertet worden ist. Zudem wurde der Text der Confessio Bohemica bisher vielfach als Beleg für die Existenz eines synkretistischen Neuutraquismus gesehen, was David mit guten Argumenten bestreitet: Vor dem Hintergrund der vorher herausgearbeiteten fundamentalen dogmatischen und liturgischen Unterschiede erscheint es schlüssig, diesen Bekenntnistext nicht als Ausdruck übereinstimmender theologischer Grundsätze aller beteiligten Konfessionen zu werten, sondern darin eine politische Allianz des vor allem im Bürgertum verankerten Utraquismus mit dem überwiegend dem Luthertum und der Brüderunität zugewandten Adel zu sehen. Die angestrebte Balance zwischen Ständen und König sollte die Autonomie, wenn nicht gar die Existenz der utraquistischen Kirche in Böhmen sicherstellen.
Die folgenden Kapitel untersuchen das Verhältnis zwischen Utraquisten und Lutheranern bzw. katholischer Kurie von 1575 bis zum Erlass des Religionsfreiheit gewährenden Majestätsbriefs 1609 sowie in der Zeit bis zur Schlacht am Weißen Berg 1620. David sieht sich hier größeren argumentativen Problemen gegenüber, da die überlieferten Dokumente - besonders die Korrespondenz des utraquistischen Konsistoriums - auf eine Schwächung des Utraquismus hinzudeuten scheinen. Die ständigen Beschwerden des Konsistoriums über die Probleme, denen sich die von ihm geschickten Pfarrer besonders in den städtischen Gemeinden ausgesetzt sahen und die bisher als Beleg für die Hinwendung der Tschechen zum Protestantismus galten, kann auch David nicht wirklich schlüssig erklären. Dafür gelingt es ihm allerdings, die These von der Unterordnung des Konsistoriums unter die Kurie überzeugend zu entkräften und die Konversion des Administrators Rezek zum Katholizismus als den Einzelfall darzustellen, der er vermutlich auch war. Insgesamt konstatiert David für die Jahrzehnte um 1600 eine zunehmende Entfremdung und Verfestigung der Konfessionen, was dem von der deutschen Forschung festgestellten Konfessionalisierungszwang jener Epoche zu entsprechen scheint. Im Titel von Kapitel 10 fällt sogar der Begriff Konfessionalisierung, die Analyse beschränkt sich aber auf die wachsenden Unterschiede zwischen tridentinischem Katholizismus und Utraquismus im zeitgenössischen theologischen Diskurs. Die interessantere Frage nach einer möglichen Konfessionalisierung des Utraquismus behandelt David leider nicht, da er unter Konfessionalisierung in erster Linie Konfessionsbildung zu verstehen scheint und nur darauf hinweist, der Utraquismus habe seine dogmatischen Grundlagen bereits in den hundert Jahren "Vorlaufzeit" vor der protestantischen Reformation hinreichend gefestigt.
In der zweiten Hälfte des Buches treten einige Schwächen zu Tage, die zum Teil wohl der ursprünglichen Aufsatzstruktur des Bandes geschuldet sind. Wenigen neuen Argumenten stehen etliche Wiederholungen gegenüber, bei der Beschreibung der positiven Eigenschaften des Utraquismus benutzt David häufiger einen übertrieben apologetischen Tonfall, und insgesamt hätte eine gewisse Straffung dem Text hier gut getan. Den Leser wird möglicherweise auch das Kapitel überraschen, in dem das Schicksal des Utraquismus nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 geschildert wird: Während David sich für den Utraquismus durchweg erfolgreich bemüht, die Klischees der älteren Geschichtsschreibung zu widerlegen, reproduziert er diese für den tridentinischen Katholizismus, die Gegenreformation und den Absolutismus und spricht sich sogar dezidiert gegen neuere Tendenzen zu einer differenzierteren Betrachtungsweise dieser Phänomene aus. Befriedigender erscheinen die abschließenden Überlegungen zum Nachwirken der Liberalität des Utraquismus, die David im Sinne des von R.G. Collingwood geprägten "Re-Enactment" begreift: Tschechische Studenten und Intellektuelle hätten im frühen 19. Jahrhundert die Welt der böhmischen Reformation nicht als theologisches System, sondern als säkularen Diskurs wieder belebt. Auch wenn man nicht alle Schlussfolgerungen von Zdeněk David teilen mag, ist die Lektüre seines Buches für alle an der europäischen Religionsgeschichte interessierten Historiker ein Gewinn. Und wer sich mit der böhmischen Geschichte der Frühen Neuzeit beschäftigt, wird David für seine Grundlagenforschung und die Revision alter Forschungsansichten dankbar sein.
Anmerkungen:
[1] Ferdinand Hrejsa: Česká konfesse, její vznik, podstata a dějiny [Die Böhmische Konfession, ihre Entstehung, Gestalt und Geschichte], Prag 1912.
[2] David betont besonders die Bedeutung der Edition der böhmischen Landtagsakten, die bisher vor allem unter politikgeschichtlichen Aspekten genutzt wurde: Sněmy české od léta 1526 až po naši dobu [Die böhmischen Landtage von 1526 bis zu unserer Zeit], Bde. 1-11, 15, Prag 1877-1941.
Anna Ohlidal