Erik Grimmer-Solem: The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864-1894 (= Oxford Historical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2003, XIII + 338 S., ISBN 978-0-19-926041-6, GBP 60,00
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Die Bewertung der "Historischen Schule" der Nationalökonomie in der deutschen Forschung ist bestenfalls ambivalent zu nennen: Einerseits hat sie ihren festen Platz in der ökonomischen Dogmengeschichte - bemerkenswert ist beispielsweise ihr Einfluss auf die amerikanische Nationalökonomie und ihre Wertschätzung in der britischen Ökonomik -, andererseits bleibt sie doch der große Bremsstein, der den Anschluss an moderne Entwicklungen, vor allem die breite Rezeption des Marginalismus in Deutschland verhindert habe. Nun liegt mit dem Buch von Erik Grimmer-Solem eine Arbeit vor, die insbesondere die - wenn man sie so nennen will - "wilden Jahre" der so genannten "Jüngeren Historischen Schule" (mit Gustav Schmoller als ihrem bekanntesten und einflussreichsten Protagonisten) in den Blick nimmt und in der Fragestellung ideen- und sozialhistorische Aspekte miteinander kombiniert. Herausgekommen ist dabei eine gedankenreiche und straff organisierte Studie, welche die Urteile der ökonomischen Dogmengeschichte hinterfragt und zu begründeten Neubewertungen der "historical economics" gelangt.
Grimmer-Solem nähert sich seinem Gegenstand, indem er zunächst danach fragt, was die Historische Schule eigentlich darstellte und wie sie sich institutionell formierte. Dabei wird diese Bezeichnung von ihm abgelehnt, weil sie seiner Meinung nach Implikationen und Zurechnungsprobleme mit sich bringt, die ihren Nutzen stark infrage stellen. Nicht zuletzt schwingt hier die Vorstellung eines gegen die "Österreicher" gerichteten monolithischen Blocks mit, was nach Grimmer-Solem so strikt nie der Fall gewesen ist: zum einen wegen der vielfältigen Spannungen der deutschen Nationalökonomen untereinander, zum anderen, weil es immer auch Ökonomen gab, die nicht oder nicht ausschließlich historisch gearbeitet haben und sich, wie beispielsweise Adolf Wagner, auf das Gedankengut der ökonomischen Klassik stützten. Aus diesem Grund beschränkt sich Grimmer-Solem in seiner Untersuchung auf vier Professoren der Staatswissenschaft (Gustav Schmoller, Adolf Held, Lujo Brentano und Wilhelm Knapp), die er als pragmatische, empirisch arbeitende Ökonomen beschreibt, die mittels der Kombination von geschichtlicher Betrachtungsweise und Statistik zur Lösung praktischer ökonomischer Probleme beitragen wollten.
Bei diesen Problemen handelte es sich in erster Linie um die Auswirkungen der mit dem Bevölkerungswachstum zusammenhängenden rapiden Urbanisierung sowie um das Anwachsen der Arbeiterbewegung und des Sozialismus als Reaktion auf soziales Elend. Diese Entwicklungen konnten Schmoller und seine Kollegen in ihrer Gegenwart direkt beobachten. Nach ihrer Meinung konnte jedoch die ökonomische Klassik (auf die sich die "Ältere Historische Schule" der Nationalökonomie noch größtenteils gestützt hatte) diese durch die Industrialisierung bewirkten Veränderungen nicht mehr adäquat fassen: Zum einen, weil sie die Gesellschaft durch selbstständig wirtschaftende Individuen konstituiert sah und zum anderen, weil sie - wie John Stuart Mill - empirische Methoden ablehnte. Trotz des Verständnisses für die Arbeiterbewegung (Lujo Brentano beispielsweise verteidigte die Gewerkschaften explizit) warfen die "historical economists" aber auch den Sozialisten vor, dass ihre Vorschläge praktisch undurchführbar seien und auf einer unzureichenden Datengrundlage beruhten. Gerade diese Datengrundlage zu schaffen, war darum primäres Ziel. Dieses "objektive" Wissen sollte durch die Verbindung einer historischen Betrachtungsweise mit statistischen Untersuchungen geschaffen werden.
Mit diesen Bemühungen im Zusammenhang stand eine klare Gesellschaftsdiagnose: Insbesondere Schmoller sah die Gefahr einer durch die Industrialisierung bedingten Verschärfung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten und des Verschwindens des Mittelstands, der ausgleichend gewirkt und verhindert hatte, dass Arbeiterklasse und herrschendes Großbürgertum unvermittelt aufeinander prallten. Die Schaffung einer Mittelstandsgesellschaft war darum das erklärte Ziel, das man auch praktisch zu verwirklichen suchte: durch Zeitschriftenartikel, Diskussionen im 1873 gegründeten "Verein für Socialpolitik" oder durch Eingaben an die politischen Stellen. Auch wenn der politische Einfluss insgesamt eher gering blieb, kann Grimmer-Solem hier sehr schön zeigen, wie sozialreformerisches Anliegen und Ausbildung der Sozialwissenschaften, ihre Methoden und Untersuchungsziele, aufeinander zurückwirkten und einen dynamischen Zusammenhang bildeten. Die Deutung des "Methodenstreits" zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller um die Frage einer "individualistisch-deduktiven" Methodik in der Nationalökonomik ist dabei zunächst überraschend, handelte es sich doch, nach der "offiziellen" Lesart, um eine rein wissenschaftsinterne Auseinandersetzung zweier miteinander verfeindeter Schulen. Grimmer-Solem stellt jedoch überzeugend dar, dass es in diesem Streit weniger um methodologische Fragen ging, als um die aus bestimmten Erkenntnisinteressen folgenden sozialpolitischen Konsequenzen. Mengers Standpunkt leitet er aus einer konservativen Haltung ab, die Eingriffe des Staates zu Gunsten benachteiligter Schichten strikt ablehnte, wohingegen die bisherige Forschung bei dem Haupt der "Österreichischen Schule" der Nationalökonomie einen spezifisch österreichischen Liberalismus diagnostizierte. Hatte bereits Dieter Lindenlaub in seiner Studie über den Verein für Socialpolitik die Berechtigung der methodologischen Argumente Schmollers hervorgehoben, so differenziert Grimmer-Solem diese Auseinandersetzung in Bezug auf die "realhistorischen" Begleitumstände. Angesichts der zumeist kritiklos repetierten Ökonomen-Apologetik, die in Menger den klaren Sieger dieses Disputs erblickt, kann diese Neubewertung nur begrüßt werden.
Grimmer-Solem ist es insgesamt gelungen, auf breiter Quellengrundlage eine hervorragend strukturierte und gut lesbare Darstellung zu verfassen. Seine Protagonisten behandelt er mit sichtbarer Sympathie und stellt nachdrücklich heraus, dass die historische Nationalökonomie eine Wissenschaft auf der Höhe der Zeit war. Die Beschäftigung mit der Geschichte war für Schmoller und seine Kollegen kein Selbstzweck, sondern diente im Rahmen der Begründung der Ökonomik als einer praktischen Wissenschaft dazu, Wissen über eine zunehmend komplexer werdende Wirklichkeit zu erlangen, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, basierend auf einem klar konturierten Konzept, wie diese zu beheben seien. Damit setzt Grimmer-Solem einen deutlichen Kontrapunkt zu der sonst so oft konstatierten angeblichen intellektuellen Mediokrität der "historical economists". Eine interessante Frage wäre jedoch, inwieweit sich diese Wertungen für die Zeit nach 1894 noch aufrechterhalten lassen, etwa angesichts eines zunehmenden Konservatismus Schmollers. Die zukünftige Forschung sowohl zur Dogmen- als auch zur Disziplingeschichte der Nationalökonomie wird an der hier besprochenen Studie jedenfalls kaum vorbeigehen können.
Roman Köster