Helmut Neumaier: "Daß wir kein anderes Haupt oder von Gott eingesetzte zeitliche Obrigkeit haben". Ort Odenwald der fränkischen Reichsritterschaft von den Anfängen bis zum Dreißigjährigen Krieg (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 161), Stuttgart: W. Kohlhammer 2005, XXVI + 258 S., 5 Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-17-018729-0, EUR 25,00
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Die Geschichte der Reichsritterschaft zählt insbesondere für die Frühzeit trotz der grundlegenden Arbeiten von Volker Press immer noch zu den eher weißen Flecken der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Auch als sich das Forschungsinteresse den Mindermächtigen im Reichssystem zuzuwenden begann, blieben die Reichsritter, die trotz des Besitzes zahlreicher Hoheitsrechte nicht zur Ausbildung vollgültiger Territorialstaaten gelangten, eher im Hintergrund, konzentrierte sich das Interesse doch vornehmlich auf diejenigen Mindermächtigen, die als Akteure an den reichsständisch geprägten Institutionen Reichstag, Reichskammergericht und Reichskreise partizipierten. Zweifellos wirkt auch die schwierige Quellenlage abschreckend auf mögliche Interessenten.
Umso mehr ist es zu begrüßen, dass mit der Studie von Helmut Neumaier die Anfänge des Orts (oder Kantons) Odenwald nun eine monografische Aufarbeitung erfahren. Odenwald, einer der sechs Orte des Fränkischen Ritterkreises, erstreckte sich weit über das heute unter diesem Namen bekannte Mittelgebirge hinaus - bis an Main, Neckar, Jagst, Kocher und Tauber und noch weiter. Nach einer knappen Einleitung, die Grundsätzliches zum Forschungsgegenstand Reichsritterschaft, zum Forschungsstand und zu den Quellen bietet, breitet der Verfasser die Geschichte des Orts Odenwald in sieben, teils mehr chronologisch, teils mehr systematisch aufgebauten Kapiteln aus. Er kann sich vor allem auf das im Staatsarchiv Ludwigsburg erhaltene Archiv des Kantons stützen, das allerdings für die Frühzeit nur eine recht dürftige Überlieferung bietet und daher der Ergänzung aus anderen staatlichen und privaten Archiven bedarf.
Das erste Kapitel behandelt die Entstehung der fränkischen Reichsritterschaft vom Wormser Reichstag von 1495 als "Initialzündung" (11) bis zum Augsburger Reichstag von 1555. Kernstück der Darstellung ist das Verhältnis der Reichsritter zum Kaiser. Während sie sich 1495 der Zahlung des Gemeinen Pfennigs widersetzten, waren sie 1529 zu einer - in traditioneller Weise als Reiterhilfe deklarierten - Türkenhilfe bereit. In Übereinstimmung mit Volker Press betrachtet Neumaier das Jahr 1542 mit der ausschließlichen Unterstellung unter den Kaiser und dem Besteuerungsrecht über die Untertanen als "Geburtsjahr der Reichsritterschaft" (34). Damit war die auf die Zahlung von "mitleidenlichen Hilfen" einerseits und dem Schutz gegen die Landesfürsten andererseits basierende Bindung zwischen Kaiser und Reichsritterschaft grundgelegt.
Auf der Basis der Intensivierung der Beziehungen zum Kaiser erfolgte bald nach der Jahrhundertmitte die definitive Absage an eine Einbindung in den sich ausbildenden Territorialstaat (Kapitel II). Liebäugelte man zunächst noch damit, maßgeblichen Einfluss insbesondere auf die Regierung der geistlichen Territorien zu erlangen, verweigerte man diesen doch Steuerleistungen, leistete Einladungen zu Landtagen keine Folge - und wurde schließlich auch nicht mehr eingeladen (im Hochstift Würzburg ab 1570; 64). Parallel bildeten sich die Strukturen der Ritterkreise und -kantone heraus.
Im dritten Kapitel wendet sich Neumaier der Mitgliederstruktur des Ortes Odenwald zu. Anhand verschiedener (vollständig abgedruckter, aber nur recht knapp erläuterter) Listen und Matrikeln (seit 1565) kann er die Ausbildung und das Wachstum des Kantons zeigen. Neben den Realisten, "jene[n] Familien, die als Person inkorporiert waren und [...] in die Matrikel eingeschriebene Güter besaßen" (89), darunter auch eine kleinere Gruppe von Adligen, die in anderen Orten immatrikuliert waren, doch Güter im Kanton Odenwald besaßen, und nichtadligen Inhabern von Adelsbesitzungen (z. B. Reichsstadt Windsheim) gab es auch einige wenige Personalisten, die nur über ein Amt in die Matrikel aufgenommen wurden.
In dem umfangreichen Kapitel über die Verfassung des Orts Odenwald (91-142) geht Neumaier zunächst knapp auf das Verhältnis der Ritterschaft zu den Reichsständen ein und zeigt, wie sehr sich die Ritter auch von reichsständischen Organisationen wie dem Fränkischen Reichskreis fern hielten. Nachdem er aus der Siegelführung geschlossen hat, "dass nicht der einzelne Ort, sondern eben der Ritterkreis als das eigentlich rechtsfähige Organ anzusprechen ist (94), wendet er sich den einzelnen Würden und Ämtern zu: Die Oberhauptmannschaft gab es nur bei der fränkischen, nicht aber bei der schwäbischen und rheinischen Ritterschaft. Der Oberhauptmann, ein Graf (!), hatte vor allem die Koordination von Angelegenheiten wahrzunehmen, die alle Orte betrafen, durfte aber nicht in die Befugnisse der Hauptleute der einzelnen Orte eingreifen. Seit den 1580er-Jahren ruhte das Amt und ist im 17. Jahrhundert dann endgültig erloschen. Noch während die Oberhauptmannschaft bestand, wurde 1575 das Direktorium eingeführt, wodurch sich verschiedene Kompetenzstreitigkeiten ergaben.
Anders als bei der schwäbischen Ritterschaft stand an der Spitze der einzelnen Orte im fränkischen Kreis der gewählte und vom Kaiser bestätigte Hauptmann. Er schrieb unter anderem die Tagungen aus, führte den Vorsitz und formulierte mit Unterstützung des Syndikus (dem eine wachsende Bedeutung zukam) den Abschied, durfte aber in wichtigen Angelegenheiten nur zusammen mit den ihm zugeordneten (in der Regel sechs auf Lebenszeit gewählten) Ritterräten beschließen. Daneben gab es noch den Ausschuss, ein Gremium, das wohl vor allem für Angelegenheiten zuständig war, die die Beziehungen zu den anderen Kantonen betrafen und dessen Mitglieder jeweils für ein Jahr gewählt wurden. Auf Kreisebene gab es einen Generalausschuss sowie einen Spezialausschuss zur Behandlung der kaiserlichen Geldforderungen. Die Truhe des Kantons Odenwald stand in Mergentheim. Erst 1598 wich man von dem zuvor im Vertrauen auf die Ehrlichkeit der Mitglieder praktizierten "blinden Einschütten" ab und ging dazu über, die Einlagen nachzuzählen (120)! Die gewöhnlichen Ortstage des Kantons Odenwald fanden in der Regel im Spätherbst oder Winter in Mergentheim statt. Neben der Beratung und Beschlussfassung war diese Versammlung auch zur Herstellung und Demonstration von "Corporate Identity" von Bedeutung (123). Dies gilt mutatis mutandis auch für die allgemeinen Rittertage aller sechs Orte und die Generalkorrespondenztage aller drei Ritterkreise.
Eine Konfessionsgeschichte des Orts Odenwald zu zeichnen sieht sich der Autor außer Stande. Er kann jedoch zeigen, dass eine Mehrzahl der Ritter lutherisch wurde, der Calvinismus keine Rolle spielte, einzelne Familien sich hingegen dem Flacianismus öffneten; andere blieben katholisch, und mehrfach hingen verschiedene Zweige einer Familie unterschiedlichen Bekenntnissen an. Auch wenn die evangelische Majorität gegenüber den katholischen Mitgliedern in Konfessionsdingen äußerste Zurückhaltung walten ließ (und ihrerseits erwartete), verstand sich die fränkische Reichsritterschaft insgesamt zweifelsohne als "evangelisches Corpus" (133).
Grundlegend für die reichsunmittelbare Stellung der Reichsritterschaft waren die kaiserlichen Privilegien, wobei dasjenige Ferdinands I. vom 26. Juli 1559 "wider die Landsasserey" besondere Bedeutung besaß. Wichtig war auch das Privileg "de non aliendo" von 1609, das dem Ausverkauf der Reichsritterschaft zu Gunsten der solventeren Fürstenstaaten einen Riegel vorschieben sollte. Neumaier kann zeigen, dass viele Privilegienerteilungen im Zusammenhang mit dem kaiserlichen Geldbedarf zu sehen sind.
Mit zahlreichen Steuerverzeichnissen dokumentiert sind die Ausführungen zur Kontribution und "mitleidenlichen Geldhilfe" (Kapitel V). Bei der Besteuerung wechselte man zwischen einer Vermögens- und einer Einkommenssteuer, ohne dass sich dafür Gründe erkennen ließen. Zumal man im Fall einer kaiserlichen Geldforderung kurzfristig hohe Summen benötigte, ging man zu einer kontinuierlichen Besteuerung über. Seit den 1580er-Jahren hatte man mit einer schwindenden Zahlungsmoral zu kämpfen, und bisweilen blieb in schwer wiegenden Fällen nur der Weg ans Reichskammergericht. Das Kapitel schließt mit einer Übersicht über die dem Kaiser gewährten Türkenhilfen.
Kapitel VI schildert, wie Mitte der 1570er-Jahre aus privaten Streitigkeiten zwischen dem Odenwälder Hauptmann Sebastian von Crailsheim und Georg Ludwig von Seinsheim ein Konflikt zwischen Odenwald und den übrigen fränkischen Kantonen entstand. Endgültig beigelegt werden konnte der Zwist erst 1585 durch kaiserlichen Richterspruch. In diesen Zusammenhang stellt Neumaier die Einrichtung des "Ständigen Ritterrats" (1590 kaiserliche Bestätigung), der in erster Linie als Instanz unterhalb des Reichskammergerichts gedacht war und den einzelne Orte im Sinne einer Regierung auszugestalten beabsichtigten. Doch: "Mit dem Scheitern [des Ständigen Ritterrats] blieb die fränkische Reichsritterschaft das, was sie bis zum Ende des Alten Reiches geblieben ist, nämlich nach dem Wort von Volker Press ein 'archaischer Personenverband'" (217).
Das letzte Kapitel behandelt den "Weg in den Krieg", insbesondere die Bündnis- und Defensionspolitik der Reichsritterschaft bis in die 1630er-Jahre. Der Band schließt mit einem knappen Resümee, das noch einmal die Bedeutung des Kaisers für die Reichsritter und umgekehrt herausstellt. Von einem reinen do ut des auszugehen griffe allerdings zu kurz, da "die Ritterschaft in Kategorien dachte, die über Leistung und Gegenleistung hinausgingen", und im Kaiser "das geradezu mit mystischer Autorität ausgestattete Reichsoberhaupt" sah, "dem man zu unbedingter Treue und Ehrerbietung verpflichtet war" - ohne dass das jedoch ein "gehörige[s] Maß an Pragmatismus" ausschloss (238 f.).
Das Buch zeugt von der profunden Quellenkenntnis des Autors. Die quellennahe Darstellung macht einerseits einen besonderen Reiz der Studie aus; andererseits erschwert sie die Lektüre bisweilen nicht unerheblich, wenn die eingestreuten Quellenzitate teils länger als eine Seite sind (39 f.). Das Verfahren, alle aus den Archivalien geschöpften Informationen zu einem Themenkreis dem Leser zu präsentieren, ermöglicht diesem ein eigenes Urteil, setzt ihn streckenweise jedoch einem heftigen Bombardement von Namen und Fakten aus. Hier wäre eine stärkere Konzentration, Analyse oder auch nur eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende des Kapitels hilfreich gewesen. Dennoch: Die Forschung zur Reichsritterschaft ist durch diese Studie ein beträchtliches Stück vorangebracht worden, und davon wird auch die allgemeine Historiografie zum Alten Reich profitieren.
Der mit fünf Abbildungen versehene, sorgfältig lektorierte Band wird ergänzt durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Orts- und Personenregister sowie eine Karte mit den Mitgliedern des Orts Odenwald.
Matthias Schnettger