Ingrid Gardill: Sancta Benedicta - Missionarin, Märtyrerin, Patronin. Der Prachtcodex aus dem Frauenkloster Sainte-Benoîte in Origny (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 36), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, 302 S., 62 Farb-, 91 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-024-2, EUR 69,00
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Das große, reich bebilderte Buch ist einer illuminierten, nordfranzösischen Handschrift des 14. Jahrhunderts gewidmet. Diese führte überraschend lange ein Schattendasein in der kunsthistorischen Forschung, sodass die für den Druck überarbeitete Berliner Dissertation von Ingrid Gardill eine wichtige Lücke füllt, sowohl was die französische Buchmalerei wie die Kulturgeschichte mittelalterlicher Frauenklöster betrifft.
Die Handschrift (heute Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett, Sig. 78 B 16) ist 1312 von Heluis de Conflans, einer adligen Nonne (möglicherweise der Schatzmeisterin) des nordostfranzösischen Benediktinerinnenklosters Sainte Benoite in Origny, in Auftrag gegeben worden. Sie enthält einen Bilderzyklus mit 54 ganzseitigen Miniaturen zum Leben und der Verehrung der hl. Benedicta, einer frühchristlichen Missionarin Nordgalliens, deren Reliquien im Kloster in Origny aufbewahrt wurden. Texte zur Geschichte des Klosters, verschiedene Versionen der Benedicta-Legende, liturgische Vorschriften und Anweisungen für die Schatzmeisterin sind zu einer Art Handbuch für den Konvent zusammengestellt worden.
Eine monografische Erschließung der Handschrift und ihres Bilderzyklus ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung, die sich aber nicht auf eine stilistische und ikonografische Analyse der Miniaturen beschränkt, sondern Fragen nach den Funktionen, den Text- und Bildtraditionen zur Verehrung der Klosterpatronin, der Auftraggeberschaft und den Gebrauchssituationen viel Platz einräumt. Den Anfang macht ein Kapitel zum Buchtypus - Gardill ordnet die Berliner Handschrift überzeugend der Gattung der "libelli" zu - und zur Auftraggeberin (Kap. 2, 11-28). Geschichte, Status, Organisation und liturgische Bräuche des in der Französischen Revolution aufgelösten und gänzlich zerstörten Klosters sind vor allem aufgrund der Texte in der Berliner Handschrift zu rekonstruieren (Kap. 3, 29-86). Als weitere, weitgehend textidentische, aber nicht illustrierte Quelle tritt eine Abschrift dieser Prachthandschrift hinzu, die kurz nach 1312 in Origny hergestellt wurde (heute Saint-Quentin, Bibliothèque municipale, Ms. 86). Diese beiden mittelalterlichen Handschriften sind die wichtigsten Quellen zum Kloster, sodass bei der gewählten Buchstruktur, die die Bildanalyse von der Rekonstruktion der historischen Hintergründe deutlich trennt, gewisse Vorwegnahmen unabdingbar sind. Dementsprechend hätte ich mir im Anschluss an die ausführliche Beschreibung und ikonografische Verortung der einzelnen Bilder (Kap. 5, 107-218) eine etwas ausgreifendere Zusammenfassung und Rückbindung der aus der Bildanalyse gewonnenen Ergebnisse an die historischen Gegebenheiten gewünscht.
Der Bilderzyklus und die Reliquienverehrung im Kloster sind eng miteinander verknüpft. Die Auftraggeberin gab offenbar sehr detaillierte Anweisungen: Die Glocke oder der Arm, mit dem Benedicta die Taufhandlung vollzieht, sind auf den Miniaturen deutlich hervorgehoben, weil in Origny die entsprechenden Reliquien aufbewahrt wurden.
Basis für eine Analyse der Miniaturen ist ein präziser Text-Bild-Vergleich, wobei die Autorin mit bewundernswertem Blick über die Fachgrenzen hinaus sämtliche bekannten, lateinischen wie volkssprachlichen Versionen der Benedicta-Legende zusammenstellt (Kap. 4, 87-106). Eine der drei in die Berliner Handschrift integrierten französischen Prosalegenden ist unauflöslich mit dem Bilderzyklus verknüpft, denn sie setzt sich aus den Bildtituli zusammen, die jede Miniatur auf vier Seiten umschließen.
Die Ikonografie der Berliner Bildfolge orientiert sich, wie die Autorin überzeugend darlegt, an Bilderzyklen der in der Picardie verehrten Gallienapostel wie Lucianus von Beauvais, Firminus von Amiens oder Dionysius von Paris. Benedicta ist allerdings die einzige Frau unter ihnen, und für einige der in ihrer Vita illustrierten Szenen lassen sich kaum Vergleichsbeispiele beiziehen, so für die Darstellungen der taufenden wie der predigenden Heiligen. Auffällig ist auch die Rolle der im Text kaum erwähnten Begleiterin der Benedicta. Auf fast allen Miniaturen ist sie dargestellt, nimmt emotionalen Anteil am Geschehen im Bild und fungiert als Identifikationsfigur sowie "Brücke ins Bild" für die Betrachterinnen.
Während die nicht illustrierte Abschrift aus Saint Quentin als Gebrauchshandschrift häufig verwendet wurde, dürfte das Prachtexemplar mehr repräsentativen Zwecken und möglicherweise auch individuellem, meditativem Gebrauch und in erster Linie der "Selbstvergewisserung der Nonnen" gedient haben (249). In Text und Bild zeigt es den Ursprung des Klosters (die Übertragung der Benedicta-Reliquien) auf, stellt mit dem Verweis auf die Echtheit der Reliquien die Identität des Ortes her und bringt die wichtige Aufgabe der Nonnen, die Verehrung der Reliquien, zum Ausdruck (22).
Bei der Berliner Handschrift, deren Hauptteile nachweislich im Kloster niedergeschrieben wurden, lässt sich eine enge Verzahnung von Schreib- und Malarbeiten beobachten. Die Handschrift scheint gewissermaßen zwischen dem Kloster und der "Welt" hin und her gewandert zu sein. Die Buchmalereien können drei unterschiedlichen Künstlern zugeschrieben werden, wobei 52 der 54 Vollbilder von dem nach diesem Bilderzyklus bezeichneten, so genannten Benoite-Meister stammen, der zwischen 1309 und 1315 in der Picardie und mutmaßlich auch in Paris tätig war (Kap. 6, 219-240).
Mit der vorliegenden Monografie schließt sich eine wichtige Lücke in der Erforschung der nordfranzösischen Buchkunst. Die Menge der in den Fußnoten "versteckten" Informationen, die diversen Anhänge zu textlichen wie liturgischen Fragen und zur Benedicta-Verehrung in ganz Europa sowie ein Register machen das Buch darüber hinaus auch für literatur-, liturgie- wie frömmigkeitsgeschichtliche Fragestellungen nützlich. Welche Bedeutung dem in vieler Hinsicht exzeptionellen Werk im Hinblick auf unser Verständnis der Kultur mittelalterlicher Frauenklöstern zukommt, bleibt durch vergleichende Untersuchungen noch weiter zu vertiefen. Während die große Bedeutung, die in Origny der Klosterpatronin zukommt, die jüngst postulierte, enge Bindung von Frauenkonventen an ihre Patrone untermauert [1], entspricht der unmittelbare Austausch zwischen der Auftraggeberin und der ausführenden, weltlichen Werkstatt nicht unserem traditionellen Bild eines von der Welt abgeschlossenen Frauenklosters.
Anmerkung:
[1] Vgl. Hedwig Röckelein: Gründer, Stifter, Heilige - Patrone der Frauenkonvente, in: Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Ausstellungskatalog Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, und Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, 66-77.
Susan Marti