Ulrich von Hassell: Römische Tagebücher und Briefe 1932-1938. Herausgegeben von Ulrich Schlie, München: Herbig Verlag 2004, 384 S., 30 Abb., ISBN 978-3-7766-2395-6, EUR 34,90
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Als 1988 die nach der Handschrift revidierte und erweiterte Ausgabe der Tagebücher von Ulrich von Hassell aus den Jahren 1938 bis 1944 erschien, war die Resonanz überwältigend - verständlicherweise, denn bis dahin hatten sich Forschung und Öffentlichkeit mit dem 1946 von der Witwe autorisierten Tagebuchhaché begnügen müssen, das nur etwas mehr als die Hälfte der vorhandenen Aufzeichnungen enthielt und obendrein kräftig bearbeitet worden war, ohne dass die Eingriffe und Zusätze Ilse von Hassells kenntlich gemacht worden wären. Nicht umsonst hat Hans Mommsen in seinem Geleitwort für die Neuedition geschrieben, dass die Tagebücher Ulrich von Hassells ein "einzigartiges Dokument zur Geschichte des Dritten Reichs" darstellten.
Allerdings war auch die Neuausgabe von 1988 keine Gesamtausgabe, denn noch immer wurden der Öffentlichkeit die Aufzeichnungen aus den Jahren vor 1938 vorenthalten, als Hassell als Botschafter in Italien einen der wichtigsten Posten bekleidete, den die deutsche Diplomatie zu vergeben hatte. Was bewog die Familie, die diese Unterlagen verwahrte, zu dieser defensiven Haltung? Erschien Hassell, einer der führenden Köpfe der Opposition gegen Hitler, darin etwa in einem so ungünstigen Licht, dass man um Ehre und Vermächtnis des 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers fürchten musste?
Seit 2004 sind solche und ähnliche Fragen, die damals herumgeisterten und für Verwirrung sorgten, verstummt. Sechzig Jahre nach dem Attentat auf Hitler konnte nämlich der Historiker Ulrich Schlie mit einer Edition der fehlenden Aufzeichnungen aufwarten - und niemand wird sagen können, dass sich die alten Gerüchte und Vermutungen bestätigt hätten und dass auch nur der leiseste Schatten auf Hassell fiele, den man noch nicht gekannt hätte.
Der mustergültig edierte Band besteht aus drei, etwa gleich umfangreichen Teilen. Er enthält erstens Ulrich von Hassells Briefe an seine Frau aus den Jahren 1932 bis 1938, die das Hassell-Bild an einigen Stellen ergänzen und präzisieren, vor allem aber Zeugnis ablegen von der äußeren Geschäftigkeit des Botschafters - von seinen Reisen, Vorträgen, Besprechungen und Empfängen -, während die politische Entwicklung und der Prozess der Distanzierung vom Nationalsozialismus in der ehelichen Korrespondenz eher unterbelichtet bleibt.
Viel relevanter ist der zweite Teil, der Hassells Tagebuch aus den Jahren 1936 bis 1938 umfasst. Aber auch hier muss der Leser sich wieder mit den Manipulationen der Witwe abfinden, die zahlreiche Wörter und ganze Passagen unleserlich gemacht oder mit der "Schere aus dem Originaltext herausgeschnitten" hat, um das "Bild ihres Mannes in der deutschen Widerstandsliteratur zu prägen" (111). Enttäuschend fällt der dritte Teil aus, in dem Ulrich Schlie Hassells Aufzeichnungen über seine Unterredungen mit Hitler und einige knappe Porträtskizzen über führende deutsche Politiker (u. a. Göring, Schacht, Goebbels und Hindenburg) mit zwei Reden Hassells und einem kleinen Text über die "Flämische Madonna" zusammengespannt hat; das Meiste davon ist bereits bekannt, manches liegt auch schon gedruckt vor.
Kernstück der Edition ist fraglos das Tagebuch, das in vielen Punkten weit mehr bietet als die offiziellen diplomatischen Akten, die seit Langem veröffentlicht sind. Die privaten Aufzeichnungen zeigen einen Botschafter, der von Beginn an eine andere Bündnis- und Italienpolitik verfolgte als die Reichsregierung unter Adolf Hitler, der zunächst aus machtpolitischen Erwägungen, dann aber auch aus Gründen ideologischer Verwandtschaft auf eine Kriegsallianz mit dem faschistischen Italien zusteuerte, die beträchtliche Teile der Welt gegen sich aufbringen musste. Hassell hielt diesen Kurs für verhängnisvoll, fand bei seinen Warnungen aber meist nur taube Ohren und wurde schließlich aus dem diplomatischen Verkehr zwischen Rom und Berlin fast ganz ausgeschaltet. Diplomatie und Bündnispolitik wurden jetzt mehr und mehr die Sache von Sonderemissären und Parteigrößen, die ab 1936 in hellen Scharen in der Ewigen Stadt aufkreuzten und auf ihre Weise versuchten, das "Achsen"-Bündnis mit Leben zu erfüllen. Hassell erfuhr von diesen Reisen meist erst spät, und die Botschaft wurde häufig nur als eine Art Reisebüro eingeschaltet, das ein möglichst ambitioniertes Besuchsprogramm garantieren sollte.
Diese demütigende Kaltstellung vor der offiziellen Abberufung aus Rom hat entscheidend zur Abwendung Hassells vom NS-Regime und auch von Hitler beigetragen; zu einem Mann des Widerstandes wurde er deshalb aber noch nicht. Auch seine nationalistischen Leidenschaften und seine Sympathien für autoritäre Herrschaftsformen waren in den Dreißigerjahren noch ungebrochen. Nichts zeigte dies deutlicher als seine fast kritiklose Bewunderung für Mussolini und das faschistische Regime, das spätestens nach dem Krieg in Abessinien eine neue Entwicklungsstufe erreichte, die ganz im Zeichen von Rassismus und totalitärer Mobilisierung stand.
Überhaupt wird man sagen können, dass es vor allem die Italienbezüge sind, die Hassells Tagebücher aus den Jahren 1936 bis 1938 zu einer lohnenden Lektüre machen. Hassells Äußerungen über das faschistische Regime, das, was er festhielt, und das, worüber er schwieg, können sogar als eine Art Lackmustest für die politisch-ideologischen Präferenzen eines Mannes verstanden werden, der sich nur quälend langsam aus der Konditionierung durch Herkunft und Milieu zu lösen vermochte; in seiner römischen Zeit begann dieser Emanzipationsprozess - es musste aber noch sehr viel geschehen, ehe aus Hassell der zu allem entschlossene Hitler-Gegner und beeindruckende Widerstandskämpfer wurde, der am 8. September 1944 vor dem Volksgerichtshof stand und noch am selben Tag hingerichtet wurde.
Hans Woller