Rezension über:

Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam 2002, 370 S., ISBN 978-3-15-010503-0, EUR 16,90
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Rezension von:
Matthias Steinbach
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Steinbach: Rezension von: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam 2002, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10 [15.10.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/10/5227.html


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Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft

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Es war ein guter Gedanke Stefan Jordans, Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hervorgetreten zuletzt auch mit einer Einführung in die Geschichtswissenschaft (Stuttgart 2005), einmal eine lexikalische Bestandsaufnahme jener geschichtswissenschaftlichen Begriffe vorzulegen, welche die Debatten der Historiker in Vergangenheit und Gegenwart maßgeblich geprägt haben und noch bestimmen.

Unter Hinweis darauf, dass die Geschichte eine Grenzwissenschaft sei und somit über keine eigene Sprache verfüge, werden einhundert Termini zur Sache ausgewählt, die man so zum Teil natürlich auch in literaturwissenschaftlichen, philosophischen, theologischen oder psychologischen Nachschlagewerken finden kann. Dennoch macht die Zusammenstellung Sinn: Von Aufklärungshistorie bis Posthistoire, Chronologie bis Zufall, Eigensinn bis Weltgeschichte oder Oral History bis Quellenkritik sind hier nämlich zentrale Kategorien historischen Denkens und Arbeitens angesprochen, ohne deren Kenntnis eine fachwissenschaftliche Verständigung ebenso wenig denkbar wäre wie eine auf nachvollziehbare Identifikationsangebote abzielende Vermittlung historischer Zusammenhänge in Schulen, Universitäten oder im öffentlichen Raum. Gut hätten es einige Stichworte mehr oder weniger sein können: Wo etwa Zeit aufgeführt ist, sollte doch Raum nicht fehlen, und zu Evolution gehört meines Erachtens der Komplementärbegriff der Revolution sehr wohl hinzu. Andererseits dürften sich Historiker und Geschichtslehrer auch ohne verwirrende Begriffsbildungen wie Disziplinäre Matrix - Nietzsche sprach gern vom "lebensfeindlichen Begriffsbeben" der Wissenschaften - darüber im Klaren sein, dass ihre Arbeit sowohl auf autonome Wissensbestände gerichtet ist als auch von wechselnden Perspektiven und lebensweltlich rückgebundenen Erkenntnisinteressen abhängt. Dahingestellt sein mag zudem, ob der pädagogische und propädeutische Anspruch, unverzichtbare Grundbegriffe zu liefern, überhaupt einlösbar ist. Die Zielstellung aber, Studienanfängern und historisch interessierten Laien den "Einstieg in das Vokabular des Historikers" zu ermöglichen und andererseits natürlich auch für dessen Abgründe zu sensibilisieren, erreicht der Band durchaus.

In seiner methodisch-theoretischen Ausrichtung versteht sich das Lexikon als Ergänzung traditioneller Nachschlagewerke inhaltlich-systematischer Art. Ein Rückgriff auf die klassischen Geschichtlichen Grundbegriffe [1] wird dabei in vielen Beiträgen deutlich. Rüdiger vom Bruchs Artikel zur Geschichtswissenschaft steckt im Grunde das zu überschauende Themenfeld des Lexikons im Ganzen ab, problematisiert es und hätte daher besser als Einleitung denn als eigenes Stichwort verwendet werden sollen. Von Jan Assmann bis Hayden White beteiligten sich namhafte Historiker auch jüngerer Jahrgänge unterschiedlicher Schulen und Weltanschauungen am Projekt. Die Bandbreite tut dem Gesamtanliegen gut, und man sollte nicht postmoderne Beliebigkeit, abflauende Streitlust und Ähnliches beklagen, sondern vielmehr die Fülle von konkurrierenden wie korrespondierenden Perspektiven und theoretischen Ansätzen begrüßen. Dass etwa Peter Schöttler und Alexander Demandt gemeinsam in einem Band publizieren, dürfte Seltenheitswert haben, kommt diesem aber letztlich nur zugute. Auch scheint die Aufnahme Wolfgang Küttlers, eines ausgewiesenen marxistischen Historikers aus der ehemaligen DDR (mit dem entsprechenden Beitrag Historischer Materialismus) ein Zeichen neuer politischer und methodischer Gelassenheit zu sein.

Deutlich wird jedenfalls, dass herkömmliche und geschichtswissenschaftliche Schulen über lange Jahrzehnte legitimierende Antithesen - wie etwa marxistisch versus bürgerlich oder inhaltlich: Staat versus Kultur; Politik versus Gesellschaft; Biografie versus Struktur - so längst nicht mehr haltbar sind. Konkrete neuere Forschungen etwa im Bereich der Politikgeschichte haben gezeigt, wie überraschend problemlos vormals unversöhnliche Richtungen zu integrieren sind. Schön ist, dass der oft als spekulativ verschrieenen und in ihrem heuristischen und didaktischen Wert meines Erachtens nach wie vor unterschätzten kontrafaktischen Geschichte (Alexander Demandt) ein eigener Artikel zugebilligt wurde. Wenn von der für die moderne Weltgeschichte und die Globalisierung so wichtigen Kategorie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - hübsch ist die veranschaulichende Bilderfolge zur Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen auf Seite 297 - und ihrer Durcharbeitung zu einem expliziten Theorem der Geschichtsphilosophie im 20. Jahrhundert gehandelt wird (Paul Nolte), sollte erwähnt werden, dass sich Ernst Bloch, wo er den Begriff einführt, auf Nietzsche bezieht und auch das Konzept Hans Freyers ohne diesen nicht zu denken ist.

Insgesamt bleibt das Resümee einer anregenden Lektüre trotz Überschneidungen und Redundanzen. Welche Begriffe in zwanzig Jahren noch oder wieder en vogue sein werden, kann man nur vermuten. Womöglich wird die Geschichtsdidaktik in der Geschichtskultur aufgehen, die Tatsache vielleicht im Ereignis. Da wir aber in der Geschichte (zum Glück!) nicht auf dem Gemüsemarkt sind, wo nur das Frische und Jetzige zählt, darf den allermeisten der behandelten Begriffe, Konjunkturen und Abschwünge eingerechnet, eine lange Halbwertszeit durchaus vorausgesagt werden. Und wenn der interessierte Geschichtsstudent das instruktive Register des Bandes aufmerksam liest und in einem quantitativ wertenden Sinne zur Kenntnis nimmt, wird er jenseits aller Theorie- und Methodendebatten von gestern und heute - mit Kant und Hegel, Humboldt und Droysen, Ranke und Marx, Nietzsche und Jakob Burckhardt, mit Max Weber schließlich und den Franzosen Marc Bloch und Fernand Braudel - zumindest auf jene bedeutsamen Autoren aufmerksam gemacht, die es sich auch morgen noch zu lesen lohnt.


Anmerkung:

[1] Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972-1997.

Matthias Steinbach