Kevin O'Connor: The History of the Baltic States (= The Greenwood Histories of the Modern Nations), Westport, CT / London: Greenwood Press 2003, XXII + 220 S., ISBN 978-0-313-32355-3, USD 46,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Bernhart Jähnig / Klaus Militzer (Hgg.): Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen zum 90. Geburtstag, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004
Gert von Pistohlkors / Matthias Weber (Hgg.): Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Festschrift für Prof. Dr. Michael Garleff zum 65. Geburtstag, München: Oldenbourg 2005
Peeter Vihalemm (ed.): Baltic Media in Transition, Tartu: Tartu University Press 2002
Auch wenn der Titel etwas anderes suggeriert: Es handelt sich bei diesem Band tatsächlich um eine Geschichte des Baltikums vom Beginn der schriftlichen Überlieferung bis zur Gegenwart und nicht nur um einen Überblick über die baltischen Staaten des 20. Jahrhunderts. Trotzdem sind diesen immerhin gut zwei Drittel des Textes gewidmet, doch mag das der Politik des Verlages bzw. der Intention der Serie geschuldet sein. Der Autor, mittlerweile an der Gonzaga University, Spokane, Washington, tätig, ist bislang noch nicht mit eigenen Publikationen zur baltischen Geschichte hervorgetreten, doch zeugt seine Darstellung von einer gründlichen Aneignung der (englischsprachigen) Literatur. Formal kommt die Arbeit konventionell daher, nach einer knappen Einführung in "Unknown Europe" werden Mittelalter und Frühe Neuzeit auf 22 Seiten abgehandelt. Erst die russische Herrschaftsperiode bekommt ein eigenes Kapitel, gefolgt von einem zur Revolutionsepoche, die hier bis 1920, also bis zur Etablierung der unabhängigen Republiken, reicht. Auf ein Kapitel zur Unabhängigkeitszeit folgt erneut eine Zweiteilung der russisch/sowjetischen Vorherrschaft ("Soviet Rule", "Reawakening"). Den Abschluss bilden ein vergleichsweise ausführlicher Überblick über die postsowjetischen Staaten (inklusive eines Abschnitts über Frauenrechte), ein Personenverzeichnis mit Kurzbiografien, eine kommentierte Bibliografie englischsprachiger Werke sowie ein ausführliches Register.
Diese konventionelle Einteilung verdeckt ein wenig, dass es O'Connor durchaus gelingt, die bis 1918/20 disparaten Geschichten Est- und Lettlands (um diese Anachronismen der Einfachheit halber zu benutzen) auf der einen und Litauens auf der anderen Seite in seine Darstellung zu integrieren. Dabei werden die Unterschiede nicht übergangen, sondern auf elegante Weise in die Betrachtung des gesamten Raumes eingefügt. Allerdings bleibt der Autor gerade bei der mittelalterlichen Geschichte insgesamt zu sehr an der Oberfläche, als dass er wirklich in Konflikt mit seinem Gegenstand geraten könnte, während seine deutschen Kollegen, wie zuletzt Michael Garleff und Ralph Tuchtenhagen, mit ihren an der Livländischen Konföderation geschulten Kenntnissen etwas ratlos vor dem litauisch-polnischen Commonwealth stehen. Hier scheint der amerikanische Blick etwas unbefangener zu sein, was sich auch an dem vergleichsweise breiten Raum ablesen lässt, den O'Connor für die jüdische Geschichte in Litauen und Kurland reserviert. Andererseits wirkt es etwas befremdlich, wenn in einer Geschichte des Baltikums ausgerechnet Zar Peter I. die erste Persönlichkeit ist, die näher vorgestellt wird. Hier hätten auch Bischof Albert, König Gediminas, Ordensmeister Wolter von Plettenberg oder Pastor Balthasar Rüssow, um nur einige zu nennen, ausführlicher Erwähnung finden können.
Erfreulich ist O'Connors Bestreben, mithilfe von klaren Wertungen seiner Leserschaft Orientierung zu bieten. Die Russifizierungsmaßnahmen der St. Petersburger Regierung am Ende des 19. Jahrhunderts seien zumindest teilweise "by invitation" durch die Esten und Letten selbst durchgeführt worden (53). Die Landreformen in Estland und Lettland zu Beginn der 1920er-Jahre seien "the largest and most sweeping" gewesen, die je von demokratischen Regierungen durchgeführt worden seien (89). Gleichzeitig waren die Bedingungen für nationale Minderheiten in diesen Staaten nicht schlechter "and in fact were often much better" als in anderen neuen Staaten Ostmitteleuropas (99). Ob jedoch die (unbewiesene) Tatsache des Ausschlusses von Juden aus dem öffentlichen Dienst Est- und Lettlands in den 1930er-Jahren ausschließlich in den Kontext des Antisemitismus gehört oder nicht bereits hinreichend als (wenn auch übersteigerter) Nationalismus junger Staaten erklärt werden kann, mag diskutiert werden (100). Entgegen der heutzutage im Baltikum gern geäußerten These, Widerstand gegen die Rote Armee im Juni 1940 hätte den kleinen Staaten zumindest eine "Finnlandisierung" eingetragen, macht O'Connor deutlich, dass die Regierungen angesichts der militärischen Drohungen keine andere Wahl hatten, als den Ultimaten Moskaus nachzugeben (115 f.).
Zu bemängeln sind jedoch einige kleinere Ungenauigkeiten. Der Hitler-Stalin-Pakt wurde bekanntlich am 23., nicht am 15. August 1939 geschlossen (109); es gab im Zweiten Weltkrieg keine tausende von deutschen Siedlern inklusive zahlreicher Deutschbalten, die auf die enteigneten Bauernhöfe gezogen wären (120); mehr als Hindenburg hat Ludendorff die Geschicke von "OberOst" im Ersten Weltkrieg gelenkt (73); dass die Reformation "not long after the collapse of the Teutonic Order" in Alt-Livland angekommen sein soll (24), gehört ebenfalls richtig gestellt: Sie hatte sich bereits einige Jahre vor dem Livländischen Krieg durchgesetzt; und schließlich hatte Ivan IV. keine kleine Festung "at the mouth of the Neva River", sondern an der Narva/Narova (ebd.) errichten lassen. Trotz dieser Kleinigkeiten bietet O'Connors Buch eine hervorragende Orientierung im Labyrinth der baltischen Geschichte, mit durchaus anderen Akzenten, als wir es von der deutschsprachigen Historiografie gewohnt sind. Nur die Karten (34, 114) hätten dringend einer Überarbeitung durch den Autor bedurft, dessen penible Regeln für die Schreibweise baltischer Städte im Text zwar gut durchgehalten werden; auf den Karten herrscht in dieser Hinsicht ziemliches Durcheinander: Die innere Logik der Gegenüberstellung (zum Jahr 1850) von "Reval (Tallinn)", "Mitawa (Jelgava)", "Vilna (Vilnius)" erschließt sich auch bei wiederholter Betrachtung nicht. Und warum auf "Dvinsk" "(Dunaberg)" anstelle von "Daugavpils" oder - je nach bevorzugter Logik - "Dünaburg" folgt, bleibt das Geheimnis des Kartografen genauso wie die auf der Karte "The Baltic Region before and after World War II" verzeichneten Ortsnamen "Parnu" (statt Pärnu), "Rrosmae" (statt Ruusmäe) oder "Kautla". Letzteres bezeichnet einen Sumpf ca. 40 km südöstlich von Tallinn, in den sich während des "Sommerkriegs" 1941 estnische "Waldbrüder" zurückgezogen hatten, die Ende Juli von sowjetischen Truppen aufgerieben wurden. So detailliert ist O'Connors Arbeit aber dann doch nicht, als dass dies in seinem Text hätte Erwähnung finden können.
Karsten Brüggemann