Peter Kurmann / Martin Rohde (Hgg.): Die Kathedrale von Lausanne und ihr Marienportal im Kontext der europäischen Gotik (= Scrinium Friburgense; Bd. 13), Berlin: De Gruyter 2004, 226 S., 16 s/w-Tafeln, 168 Abb., ISBN 978-3-11-017916-3, EUR 128,00
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Die "porta picta" der Kathedrale von Lausanne gehört zu den seltenen Beispielen eines mittelalterlichen Figurenportals, deren ursprüngliche Polychromie noch heute erfahrbar ist. Seit der Publikation anlässlich der 750-Jahrfeier der Weihe der Kathedrale 1975 war die Forschung zu diesem Bau stagniert. Dies ist durchaus erstaunlich, gelang es doch in der Zwischenzeit, die Originalfassung des Skulpturenzyklus im Rahmen einer konservatorisch-restauratorischen Behandlung freizulegen. Diese Untersuchung "porta picta" setzte Maßstäbe für den heutigen Umgang mit der Bewahrung mittelalterlicher Portalskulptur. Eine Publikation der Ergebnisse steht bislang aus.
Ein zentrales Anliegen des Kolloquiums war es dementsprechend, Historiker, Kunsthistoriker, Restauratoren, Architekten und Denkmalpfleger zusammenzubringen, um die Ergebnisse aus den verschiedenen Disziplinen zu diskutieren. Scheint dies im Rahmen des Kolloquiums durchaus gelungen zu sein, so wurden die Beiträge "von den Vertretern nicht geisteswissenschaftlich orientierter Disziplinen" (7) bedauerlicherweise nicht für die Drucklegung eingereicht.
Ungeachtet dessen bringt die vorliegende Aufsatzsammlung die Forschung um die Architektur und Skulptur der Lausanner Kathedrale ein gutes Stück weiter. Als Einstieg empfiehlt sich der letzte Aufsatz, in dem Willibald Sauerländer einige der zentralen Fragen zusammenträgt. Die Kathedrale mit ihrer Architektur und der "porta picta" sind in den klassischen Abhandlungen zur gotischen Kunst zumeist nicht zu finden. Die Gründe hierfür sind schnell aufgezählt: Lausanne liegt geografisch weit ab von den berühmten französischen Kathedralbaustellen, und die Architektur der Schweizer Kathedrale fügt sich in den Augen der Kunsthistoriker nicht in den Kanon dieser Bauten ein. Dies ist Grund genug für Sauerländer, Fragen von Peripherie und Zentrum erneut zur Diskussion zu stellen. Beispielhaft macht er auf die Stellung des Chartreser Königsportals aufmerksam, indem er auf burgundische Beispiele verweist, wie das Portal von St.-Bénigne in Dijon, dessen späte Datierung durch die französische Forschung von Sauerländer bezweifelt wird. Hier fällt unter einem übergeordneten Blickwinkel auf, dass die traditionellen Ordnungsmodelle der französischen Kunst des 12. und 13. Jahrhunderts in den letzten Jahren zunehmend in Bewegung gebracht werden. [1]
Ein Großteil des Bandes beschäftigt sich mit der Architekturgeschichte der Kathedrale. Nur wenige Quellen werfen Licht auf den Kirchenbau und seinen Kontext (vergleiche dazu den Beitrag von Jean-Daniel Morerod, 11-33). Mithilfe der Bauarchäologie gelingt es Werner Stöckli (45-59), die einzelnen Bauphasen der Kathedrale zu differenzieren: Demzufolge scheint man in den 1170er-Jahren zunächst mit einem Chorumgang mit Kapellenkranz aus halbrunden Apsiden begonnen zu haben. Schon bald gab es einen ersten Planwechsel zu Gunsten rechteckiger Umgangskapellen. Mit dem frühen Baubeginn rückt Lausanne chronologisch unmittelbar an die erste Reihe der französischen Bauten heran, deren genaue Kenntnis bereits in der ersten Bauphase vorauszusetzen ist. Der Lausanner Bischof war zwar nominell Reichsfürst, hatte aber engere Beziehungen zum französischsprachigen Raum. So bleibt Dethard von Winterfeld (139-159) nur die Feststellung, dass die Lausanner Architektur kaum direkte Beziehungen mit den Bauten im Reich aufweist.
Mehrere Aufsätze widmen sich dem Beziehungsgeflecht zwischen den Bauten im Pariser Raum, sowie den im Umkreis der Zisterzienser entstandenen großen Werken der südlichen Champagne und dem nördlichen Burgund. So verdeutlicht Jacques Henriet noch einmal, dass der Plan für den Chorumgang auf die Kathedrale von Langres zurückgehen dürfte (61-73). Henriet versucht in seinem Beitrag zu erklären, wie die Lösung von Langres ihren Weg nach Lausanne gefunden haben könnte. Der Autor vermutet eine Vermittlung durch die Zisterzienser, die sich schon früh im Lausanner Sprengel niederließen. Ausgangspunkt könnte der Neubau der Abteikirche Clairvaux ab zirka 1150/60 gewesen sein. Angesichts der mehr als spärlichen Überlieferungslage läuft man allerdings Gefahr, den Horizont der mittelalterlichen Bauleute und Auftraggeber zu unterschätzen. Auch ein direkter Kontakt mit Langres muss einkalkuliert werden.
Éliane Vergnolle (75-87) kann in ihrer Analyse der Kapitellplastik deutlich machen, dass einige der Bildhauer offenbar die Produktion in der Île-de-France ab den 1140er-Jahren kannten, diese aber sehr selbstständig umsetzten und sich zudem auf verschiedene Vorlagen stützten.
Nicht weniger Interesse verdienen die späteren Bauabschnitte, die nach einer weiteren Planänderung seit 1190 realisiert wurden. Bereits Jean Bony hatte 1957 [2] darauf hingewiesen, dass der Aufriss von Chor und Querhaus in Lausanne auf die 1182 unter William the Englishman begonnene Trinity Chapel in Canterbury zurückzuführen sein dürfte. Christopher Wilson greift in seinem Beitrag (89-124) diese Beobachtung auf und bestätigt sie im Kern. Anhand zahlreicher Einzelbeobachtungen kann er überzeugend darlegen, dass der Architekt der Lausanner Kathedrale Canterbury sehr gut gekannt haben muss. Wilsons Abhandlung geht aber weit über einen Vergleich zwischen Lausanne und den möglichen englischen Vorbildern hinaus. Vielmehr werden grundsätzliche Fragen nach dem Einfluss von Canterbury auf die französische Architektur aufgeworfen. Wilson macht unter anderem am Beispiel des durchlaufenden Triforiums deutlich, dass die Frage von Vorbild und Nachfolge bislang allzu eindeutig zu Ungunsten Canterburys entschieden wurde. Der möglicherweise größere Nachhall von Canterbury auf dem Kontinent könnte auch besser erklären, warum man im entfernten Lausanne scheinbar völlig isoliert Englisches rezipiert.
Zugleich kann Dany Sandron (125-137) in seinem Beitrag präzisieren, dass der Architekt in Lausanne auch nordfranzösische Beispiele rezipierte, wobei die um 1160 begonnene Kathedrale von Laon eine vorrangige Rolle spielte. Aber auch Sandron bestätigt letztendlich den Eindruck, dass man in Lausanne die nordfranzösischen Beispiele als eine Inspirationsquelle nutzte, die man eigenständig verarbeitete.
Von den Aufsätzen zur "porta picta", die nach neuesten bauarchäologischen Erkenntnissen um 1225/35 entstanden sein dürfte, soll hier der Beitrag von Bruno Börner herausgegriffen werden. Börner arbeitet in seinem Beitrag (179-202) schlüssig heraus, dass in Lausanne eine Marienkrönung im wörtlichen Sinn dargestellt ist, ganz im Unterschied etwa zu Senlis, wo wir einer bereits gekrönten Muttergottes gegenübertreten. Entscheidend ist jedoch eine Abänderung des Programms mit dem prominent platzierten thronenden Christus des Tympanons, während die nach rechts gerückte Maria verkleinert wiedergegeben ist. Börner gelingt die Verknüpfung mit der zeitgenössischen theologischen Diskussion um die 'immaculata conceptio' der Gottesmutter, also der Frage, ob sich Maria zunächst die Erbsünde zugezogen hat oder nicht. Das Portalprogramm folgt hier einer Auffassung, wie sie beispielsweise von dem Pariser Scholastiker Alexander von Hales (zirka 1185-1245) vertreten wurde. Dieser betonte, dass Maria der Erlösung und Heiligung durch Christus nicht bedurfte, wenn sie sich die Erbsünde gar nicht zugezogen hätte. Folgerichtig wird in Lausanne Christus ins Zentrum gerückt, sodass Maria zugleich besser als Mittlerin zwischen den Menschen und Gott fungiert.
Insgesamt gelingt es dieser Publikation, den Platz der Kathedrale in der gotischen Architektur und Skulptur der zweiten Hälfte des 12. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu präzisieren. Zu hoffen bleibt nun, dass auf die Beiträge der Historiker und Kunsthistoriker jene der Restauratoren und Naturwissenschaftler bald folgen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z. B. Jean Wirth: La datation de la sculpture médiévale, Genève: Droz 2004, http://www.sehepunkte.de/2005/10/7420.html.
[2] The Resistance to Chartres in Early XIIIth Architecture. In: Journal of the British Archaeological Association, 3rd ser., 20/21 (1957/58), 32-52.
Gerhard Lutz