Rezension über:

Anne Reichold: Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien, Paderborn: Mentis 2004, 241 S., ISBN 978-3-89785-293-8, EUR 34,00
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Rezension von:
Annette Barkhaus
Wissenschaftsrat, Köln
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Annette Barkhaus: Rezension von: Anne Reichold: Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethischen Persontheorien, Paderborn: Mentis 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 11 [15.11.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/11/7221.html


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Anne Reichold: Die vergessene Leiblichkeit

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Anne Reichold greift in ihrer Dissertation einen zentralen Begriff der Philosophie auf, nämlich den der Person. Obwohl dieser Begriff bis in den Alltagsdiskurs hinein von großer Bedeutung ist, ist er - wie so häufig im Falle grundlegender Begriffe - nicht wirklich geklärt. Aber eine Klärung wäre dringend erforderlich, da der Terminus gerade in der angewandten Ethik die Grundlage zahlreicher normativer Argumentationen bildet. Jedoch ist Reicholds primäres Ziel nicht allein eine begriffliche Explikation, bei der sie die beiden mehr oder weniger unverbundenen Traditionen, die metaphysisch-ontologische und die ethisch-anthropologische, zusammenführt. Ihre Absicht ist es vielmehr, die "Bestimmung der Leiblichkeit [...] in den ethischen Personenbegriff systematisch" zu integrieren (12). Damit greift die Autorin eine Tendenz in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion auf, Phänomen und Begriff des (menschlichen) Körpers - jenseits seiner bloß materiellen Verfasstheit als Raum-Zeit-Objekt - in den philosophischen Diskurs zurückzuholen. [1] Hierbei liegt es nahe, auf die phänomenologische Tradition zurückzugreifen. Reicholds Buch lässt sich in diese Bewegung einordnen, die seit einigen Jahren in der Philosophie und auch in angrenzenden Disziplinen wie der Soziologie zu beobachten ist.

Reichold lässt sich von der systematischen These leiten, "dass die körperlich-leibliche Verfasstheit der Person ein entscheidender Grund dafür ist, dass der Personenbegriff in ethischen Kontexten überhaupt Anwendung findet. Nicht die mentalen Bestimmungen des Selbstbewusstseins und der Rationalität allein fundieren den ethischen Gebrauch des Personbegriffs, sondern diese sind erst darum ethisch relevant, weil die Person als körperlich-leibliches Wesen gedacht ist, das verletzbar und sterblich ist, immer schon in einem Verhältnis zu anderen Personen und der Welt steht und daher einerseits des Schutzes bedarf, andererseits für die Konsequenzen seiner Handlungen in der Welt und in Bezug auf andere Personen zur Verantwortung gezogen werden kann" (13).

Die Arbeit ist klar in vier Teile gegliedert. Zunächst beginnt sie mit einem historischen Abriss, um die Begriffe Mensch - Person - Subjekt (Selbst) philosophie-historisch verorten zu können. Ein zweites Kapitel widmet sich der ethischen Personendiskussion in der gegenwärtigen Philosophie (u. a. Charles Taylor, Derek Parfit), um in einem dritten Schritt anhand weiterer analytischer oder analytisch geprägter Positionen (Gilbert Ryle, Peter Strawson, Bernard Williams etc.) die physikalistische Schlagseite der ontologischen Diskussion des Personenbegriffs herauszuarbeiten. Das vierte Kapitel zielt auf die Verknüpfung von analytischer und phänomenologischer Diskussion.

Reichold arbeitet im Durchgang durch zentrale moderne Positionen der Ethik und der Ontologie deren implizite Annahmen im Begriff der Person - bezogen auf die Leiblichkeit des Menschen - klar heraus. Dabei argumentiert sie einleuchtend für eine Verschränkung des ethischen und des ontologischen Personendiskurses und sucht die Basis für eine solche Verschränkung in den phänomenologischen Analysen der Leiblichkeit im Anschluss an Edmund Husserl und Emmanuel Levinas. Sie sieht diese "in den Bestimmungen der Sprachlichkeit, des Altruismus und des Konzepts des Anderen" (220) gegeben und folgert abschließend: "Der ethische Begriff der Person, der zugleich die Elemente der Endlichkeit und der Verantwortung begründen muss, kann durch die Analysen der Leiblichkeit erweitert und fundiert werden" (225).

Reichold weist - zu Recht - auf die "moralische Potenz des Personbegriffs" (228) in seiner leiblichen Verankerung hin, die in der analytischen Tradition mitgedacht, aber nicht expliziert wird. In zwei wesentlichen Punkten sollten ihre Analysen jedoch vorangetrieben werden, um dem Anspruch der Fundierung des ethischen Begriffs der Person gerecht zu werden. So stellt sich zunächst die Frage, ob nicht - nach einer Phase der Auseinandersetzung mit konstruktivistischen und feministischen Analysen zur Körperlichkeit - differenzierter auf das phänomenologische Leiblichkeitskonzept zurückgegriffen werden müsste. Dessen Erkenntnisse zur Historizität und Kontextualität der Rede vom menschlichen Körper machen einen unschuldigen Rekurs auf den "Leib" eigentlich unmöglich.

Zum Zweiten: Letztlich rücken auch bei Reichold die negativ besetzten Bestimmungen, die Sterblichkeit und Verletzlichkeit leiblich verfasster Personen ins Zentrum. Eröffnet uns die leibliche Verfassung aber nicht zugleich Existenzmöglichkeiten, für die wir bisher keine klaren Begriffe gefunden haben? In den Analysen zur Kreativität des Handelns, wie Hans Joas sie vorgelegt hat, scheint dieses ermöglichende Potenzial der Leiblichkeit auf. [2] Darin liegt gleichermaßen eine ethische Dimension verborgen.

Reicholds Verdienst liegt unbestritten darin, die Anknüpfungspunkte der derzeit vorherrschend in der analytischen Tradition stehenden Ethik und Ontologie mit den in der phänomenologischen Tradition stehenden Leiblichkeitsanalysen aufzuzeigen und damit die impliziten Voraussetzungen des analytischen Personenbegriffs aufzudecken. Ihr Impuls für die innerphilosophische Diskussion ist relevant, aber die Bedeutung für den interdisziplinären Diskurs wird eher begrenzt sein. Denn Leiblichkeit ist, wie Reichold meint, gerade nicht ein bloß "vergessen[es]" Konzept (227), sondern ein in hohem Maße von der Philosophie verworfenes, als Pol menschlicher Existenz, der wenig mit dem Geist, viel jedoch mit dem geschmähten Körper zu tun hat. Frei einem Diktum Plessners über Heidegger folgend, ließe sich konstatieren, dass große Teile der Philosophie im menschlichen Körper allein die Möglichkeit zu sterben sehen. Es sollte aber an der Zeit sein, den Begriff einer lebendigen Person zu entwickeln, um die darin liegenden - auch für einen ethischen Diskurs relevanten - Potenziale aufzeigen zu können.


Anmerkungen:

[1] Vgl. u. a. Emil Angehrn / Bernhard Baertschi: Der Körper in der Philosophie / Le corps dans la philosophie (= Studia philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft; Vol. 62), Bern / Stuttgart / Wien 2003.

[2] Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 2002 (1.Aufl. 1982).

Annette Barkhaus