Uwe Walter: Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 1), Berlin: Verlag Antike 2004, 478 S., ISBN 978-3-938032-00-8, EUR 49,90
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Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich Althistoriker, Klassische Philologen und Archäologen intensiv mit den Formen beschäftigt, in denen die Römer ihr Wissen über die eigene Vergangenheit gebildet, gespeichert und aktualisiert haben: sei es im aristokratischen Leichenbegängnis, in den Ehrenstatuen auf öffentlichen Plätzen oder in der Geschichtsschreibung. Eine Zusammenschau der verschiedenen Modi und Medien des historischen Gedächtnisses ist jedoch noch nicht unternommen worden.
Dieser großen Aufgabe hat sich Uwe Walter in seiner Kölner Habilitationsschrift von 2002 unterzogen. Schon mit dem Begriff "Geschichtskultur" im Untertitel, die "das synchrone und diachrone soziale Gedächtnis eines Kollektivs" umfasse (20), erhebt Walter implizit den Anspruch, über eine bloße aneinander reihende Beschreibung hinaus den "kommunikativen Kontext" der unterschiedlichen Felder historischer Erinnerung (22), mithin auch das Netzwerk und die Wechselwirkung der verschiedenen Medien zu beleuchten. Walter wählt zu Recht das offenere Konzept von 'Geschichtskultur' statt des Assmann'schen 'kulturellen Gedächtnisses', da die römische - wie auch die griechische - Erinnerungskultur weder herrschafts- noch glaubensgestützt war (24 f.). Walter erweist in der ausführlichen Einleitung (11-41) durch eine semantische Untersuchung, dass der lateinische Begriff memoria schon "die wesentlichen Inhalte des 'weichen', aber dennoch analytisch brauchbaren kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsbegriffes abdeckt" (27).
Das zweite Kapitel (42-83) behandelt die mündliche Kommunikation historischer Erinnerung in der häuslichen Erziehung, in den Reden auf dem Forum, beim aristokratischen Bankett und im Theater (durch Geschichtsdramen). Dabei wird das exemplum in seiner paränetischen wie legitimatorischen Funktion als zentrales "Modell des Vergangenheitsbezugs" betont. Die Bilderwelt der adligen Familien, wie sie sich in den Ahnenbildnissen, den Leichenbegängnissen, den Grabdenkmälern und den Münzen entfaltete, wird im dritten Kapitel (84-130) auf ihre Funktion untersucht, historische Erinnerung präsent zu halten und ihr eine - genealogische - Zeitstruktur zu verleihen. Das vierte und fünfte Kapitel beleuchten die eigentlichen "Denkmäler" wie Ehrenstatuen, Siegesmonumente und Historiengemälde (131-154) bzw. Gedächtnisorte wie die Hütte des Romulus, den Aventin oder Veii (155-195). Im sechsten Kapitel (196-211) geht es um die Möglichkeiten offizieller, das heißt nicht direkt an die adligen Familien gebundener, nichtliterarischer Texte geschichtlichen Inhalts, so die Priesteraufzeichnungen, Fasti und Annales Maximi, aber auch Gedenktage an schwere Niederlagen (dies atri).
Die bei weitem größte Aufmerksamkeit hat Walter den Dichtern und Geschichtsschreibern gewidmet (212-356) - wofür er als Herausgeber (zusammen mit Hans Beck) der zweibändigen Fragmentsammlung der "Frühen Römischen Historiker" schon als Kenner ausgewiesen ist. Nachdem er die römische Historiografie republikanischer Zeit gegenüber ihrer Abwertung durch Tonio Hölscher, der sie als "Seitenzweig der geschichtlichen Erinnerung von geringer Öffentlichkeit, Monumentalität und Verbindlichkeit" qualifiziert hatte, rehabilitiert hat, durchmustert er ihre Vertreter in chronologischer Reihenfolge. Als charakteristische Modelle des Vergangenheitsbezuges identifiziert er den Peripetie- und Dekadenzdiskurs sowie Ansätze zur kontrafaktischen Geschichte. Besondere Beachtung verdient seine Behandlung der Gesamtgeschichte im 1. Jahrhundert v. Chr. (339-353), das heißt der Darstellungen von den Anfängen Roms bis in die jeweilige Gegenwart: Ihre Verfasser, die nun nicht mehr der regierenden Schicht angehörten, benutzten das annalistische Schema als Authentizitätssiegel - Licinius Macer berief sich sogar auf die ominösen libri lintei - und fanden offenbar ein Publikum nicht nur unter den seit Sulla zahlreichen Neusenatoren, die keinerlei imagines ihr Eigen nennen konnten, sondern auch in breiteren Bevölkerungsschichten.
Im achten Kapitel wird Ciceros Prinzip bei seinen prosopografischen Forschungen herausgearbeitet, weit eher seinem eigenen Präsenzwissen oder dem glaubwürdiger Standesgenossen als den zahlreichen Geschichtswerken zu vertrauen (357-373). Das neunte Kapitel erörtert am Beispiel von Numa Pompilius und M. Furius Camillus die Formung von legendären Gestalten zu exempla (374-407). "Statt einer Bilanz" liefert Walter einen Ausblick auf die augusteische Zeit (408-426). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (427-461) sowie Register zu Personen, Begriffen, Orten und Sachen sowie zu den antiken Stellen (in Auswahl) (463-478) runden das Werk ab.
Walter gewährt dem Leser einen detaillierten Einblick in die verschiedenen Erinnerungsräume, die zusammen - um das Bild fortzuführen - das Haus der Geschichtskultur im republikanischen Rom bildeten. Doch in dem nach zwei Jahrtausenden längst zusammengestürzten und verschütteten Gebäude ist nur noch schwer zu erkennen, wo sich die tragenden Wände und Säulen befanden, wie die einzelnen Erinnerungsräume genau abgegrenzt waren und wie sie miteinander in Verbindung standen, welcher Raum von den römischen Bewohnern zu welchen Zeiten am stärksten frequentiert wurde. Aus der Draufsicht scheint dem Forscher nur eine Inventur - diesen Begriff verwendet Walter selbst (426) - der Überreste in den einzelnen Räumen möglich zu sein.
Und doch erlaubt die tragende Rolle der römischen Geschichtskultur im Gefüge der res publica, auch ohne direkte Quellenbelege theoretische Annahmen über die relative Größe derjenigen Räume anzustellen, die dem gesamten populus Romanus Platz bieten mussten. Walter unterstreicht mit Recht, dass für das Volk "die pompa funebris [...] die wichtigste und wohl am meisten prägende Begegnung mit - genealogisch organisierter - römischer Geschichte" darstellte (90), dass dadurch das Adelsregiment legitimiert wurde und "der bemerkenswerte Gehorsam [sc. des Volkes] gegenüber der Nobilität zu einem guten Teil zu erklären ist" (100). Angesichts dieser zentralen sozialintegrativen Funktion der von den Adelsgeschlechtern geprägten memoria, der großen Häufigkeit und inhaltlichen Dichte ihrer öffentlichen Präsentation und ihres unmittelbaren Bezugs zur res publica [1] verwundert allerdings ein wenig der geringe Raum, den Walter ihr zugesteht im Vergleich zur Geschichtsschreibung, deren Leserschaft sich doch mindestens bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. auf die römische Oberschicht beschränkte. Walters Konzentration auf die Historiografie trägt natürlich der dafür unvergleichlich weit reicheren Quellenlage Rechnung, ist jedoch auch seiner Neigung geschuldet, die Aspekte der Produktion und Formung von geschichtlicher Erinnerung weit stärker zu beleuchten als die ihrer Rezeption.
Dennoch erweist Walter als entscheidenden Wandel in der augusteischen Zeit die Usurpation und Monopolisierung gentilizischer Erinnerungspraktiken durch den Princeps, der alle großen Römer in die kaiserliche Ahnenreiche des Forum Augusti und später der pompae funebres integrierte (413-421). Doch schon seit dem Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. hatte die memoria der gentes ihre Funktion als Rückgrat der römischen Erinnerungskultur immer mehr eingebüßt, was nicht zuletzt auf ihre Desavouierung durch Marius - man denke nur an seine in den Grundzügen wohl korrekt wiedergegebene Volksrede bei Sall. Iug. 85 (vgl. dazu bei Walter, 101-104) - und das militärische Versagen vieler nobiles zurückzuführen ist. Dies mag auch die von Walter konstatierte (343-353) grundsätzliche Erweiterung des Zielpublikums in den Gesamtgeschichten der sog. Jüngeren Annalisten im 1. Jahrhundert v. Chr., bei Licinius Macer zudem die deutliche populare Tendenz erklären.
Doch schmälern diese Bemerkungen keineswegs das große Verdienst von Walters Buch, das in der Sache und, gerade was die neueste Fachliteratur angeht [2], mit beeindruckender Akribie erstmals die spezifischen Erinnerungspraktiken beschreibend nebeneinander gestellt hat. Seine Detailbeobachtungen und übergreifenden Erkenntnisse wie auch die immer ergebnisorientierte Rückbindung der römischen Geschichtskultur an den modernen Erinnerungsdiskurs bieten reiches Material und zahlreiche Anstöße für die Forschung, insbesondere für den weiteren Vergleich der verschiedenen Modi römisch-republikanischer memoria.
Anmerkungen:
[1] Vgl. W. Blösel: Die memoria der gentes als Rückgrat der kollektiven Erinnerung im republikanischen Rom, in: U. Eigler / U. Gotter / N. Luraghi / U. Walter (Hg.): Formen römischer Geschichtsschreibung von den Anfängen bis Livius, Darmstadt 2003, 53-72.
[2] Zu 107 Anm. 96 und Gell. 13,20,1-17 ist zu ergänzen: I.G. Taifacos: Una laudatio funebris di M. Catone Nepote dalla testimonianza di Aulo Gellio, Rom 1979.
Wolfgang Blösel