Wolfgang Benz / Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1: Die Organisation des Terrors, München: C.H.Beck 2005, 395 S., 12 Abb., ISBN 978-3-406-52961-0, EUR 59,90
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Ein Gesamtüberblick über die Konzentrationslager des 'Dritten Reiches' gilt schon lange als ein Desiderat der historischen Forschung. Bereits in den 60er-Jahren plante das Münchner Institut für Zeitgeschichte ein solches Mammutprojekt, das dann aber recht schnell wieder fallen gelassen wurde. Wie Martin Broszat damals erklärte, hatte man die "Schwierigkeiten unterschätzt, die einem solchen Vorhaben im Wege stehen". [1] Damals fehlten schlicht die Grundlagen, da die Geschichtswissenschaft die KZs weitgehend ausgeblendet hatte. Folglich gab es nur wenige gesicherte Erkenntnisse über das riesige Terrornetz, das sich über ganz Nazi-Deutschland und weite Teile Europas ausbreitete, mit insgesamt mehr als 20 Haupt- und über 1.000 Nebenlagern.
Mittlerweile hat sich die Forschungslage grundlegend gewandelt. Während man alle wichtigen Studien, die bis Ende der 70er-Jahre von Historikern verfasst wurden, noch ohne Probleme auf einem einzigen Bücherregal unterbringen konnte, würde man für die seitdem erschienenen Arbeiten wohl eine kleine Bibliothek benötigen; selbst Fachleute kommen heute mit dem Lesen kaum noch nach. Natürlich gibt es weiterhin Lücken, was sich zum Teil auch durch die Quellenlage erklärt: zahllose Dokumente wurden noch vor Kriegsende zerstört, andere liegen verstreut in Dutzenden von Archiven und Gedenkstätten. Dennoch hat die Expansion der Forschung in den letzten Jahrzehnten unser Wissen enorm erweitert und macht es jetzt möglich, einen neuen Anlauf in Richtung Gesamtüberblick zu unternehmen. Genau dieses Ziel wurde von Wolfgang Benz und Barbara Distel im Jahre 2001 ausgegeben, im ersten Band ihrer "Gesamtdarstellung aller Konzentrationslager im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich". [2] Inzwischen sind im Berliner Metropol Verlag vier weitere Bände in dieser Reihe erscheinen.
Interessanterweise haben Wolfgang Benz und Barbara Distel jetzt noch eine Geschichte der Konzentrationslager angekündigt, mit dem Sammelband "Der Ort des Terrors" als Auftakt. Der Verlag hat sich geändert (Beck), das Ziel ist aber offenbar das gleiche geblieben: die Darstellung aller KZs und deren Nebenlager (sowie einiger anderer Zwangslager). Sieben Bände sind insgesamt geplant - inwieweit sie sich mit denen aus dem Metropol-Verlag überschneiden werden, wird sich noch zeigen. Der hier besprochene erste Band jedenfalls präsentiert gänzlich neue Beiträge, mit einer einzigen Ausnahme: Johannes Tuchels Analyse der frühen Konzentrationslager, die sich auch in der Metropol Reihe findet. [3]
Im ersten Band der neuen Geschichte der KZs geht es noch nicht um die verschiedenen einzelnen Lager. Stattdessen soll in diesem Sammelband "in grundlegenden Artikeln Struktur und System der nationalsozialistischen Konzentrationslager herausgearbeitet" (8) werden. Zu diesem Zweck sind insgesamt 23 Beiträge versammelt, oft von führenden Experten zur Geschichte der KZs geschrieben. Fast alle Autoren sind aus dem deutschsprachigen Raum, was durchaus verständlich ist, kommen doch derzeit die wichtigsten Forschungsimpulse von hier. Dennoch hätte man sich ein etwas internationaleres Autorenteam gewünscht - so findet sich hier nur ein amerikanischer Historiker und kein einziger aus Polen, obwohl auch dort in den letzten Jahren wichtige Arbeiten erschienen sind.
Zum Inhalt: eine Reihe von Artikeln bieten einen Überblick über die zeitliche Entwicklung der Konzentrationslager. Dazu gehören die beiden einleitenden Darstellungen über die NS-Zwangslager (Wolfgang Benz) und das KZ-System (Angelika Königseder)genauso wie Artikel zu bestimmten Phasen in der Geschichte der Lager, bis hin zur Befreiung bei Kriegsende (Robert H. Abzug, Juliane Wetzel). Auch die Nachkriegszeit wird nicht vergessen: so weist Jürgen Zarusky in seinem Beitrag über die juristische Aufarbeitung darauf hin, dass nur eine relativ kleine Minderheit der Täter vor Gericht zur Rechenschaft gezogen wurde. Neben diesen Beiträgen stehen verschiedene Artikel zur inneren Organisation der Lager - wie der Verwaltungsstruktur (Günter Morsch) und der Häftlingskennzeichnung (Annette Eberle), die erst ab 1937/38 standardisiert wurde - sowie auch zu bestimmten Aspekten des Lebens und Sterbens in den KZs, zum Beispiel der Zwangsarbeit (Hermann Kaienburg) und der Rolle von Frauen als Opfer und Täter (Barbara Distel).
Zusammengenommen eröffnen diese Artikel einen klaren Blick auf die Geschichte der Konzentrationslager und ihres Funktionswandels im 'Dritten Reich', von den oft ad hoc eingerichteten frühen Lagern bis zum Massenmord in den riesigen Lagerkomplexen, die im Zweiten Weltkrieg entstanden. Einige Beiträge zeigen Perspektiven auf, die von der Forschung bislang noch nicht ausreichend wahrgenommen wurden. Dazu zählt Stefanie Endlichs Studie zur Architektur der Konzentrationslager, in der sie die zunehmende Abweichung von idealtypischen Planungen durch "Überfüllung, Infrastrukturmängel, Improvisation und Chaos" (226) betont. Insgesamt geht es in dem Sammelband aber weniger um die Entdeckung unbekannter Aspekte, sondern um die Zusammenfassung der existierenden Literatur zur Lagergeschichte, die seit dem letzten großen Forschungsüberblick weiter angewachsen ist. [4]
Einige Autoren wichtiger neuer Studien sind selbst in dem Sammelband vertreten und fassen ihre Ergebnisse hier kurz zusammen; so schreibt Karin Orth über die Lager-SS und Jan Erik Schulte über das SS Wirtschafts-Verwaltungshauptamt. [5] Im Vergleich zu diesen Artikeln fallen ein paar andere Beiträge etwas ab, darunter Kurt Pätzolds Studie der Häftlingsgesellschaft, die sich nicht immer ganz auf der Höhe der Forschung bewegt und manchmal zu unkritisch der Darstellung ehemaliger politischer Gefangener folgt (Eugen Kogons Buch "Der SS-Staat", verfasst im Jahre 1945, taucht in 12 der 28 Fußnoten auf). Dies wird deutlich in der pauschalen Verurteilung der Gefangenen mit dem grünen Winkel (von der SS als "Berufsverbrecher" eingewiesen), für die laut Pätzold "Cliquenbildung und mafiaähnliche Strukturen" charakteristisch waren (117). Wie die jüngste Forschung zeigt, sollte man hier doch etwas vorsichtiger sein, gibt es doch noch immer wenig gesichertes Wissen über die "grünen" Gefangenen. [6]
Die Gesamtkonzeption des Sammelbandes ist insgesamt gut gelungen. Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen halten sich in Grenzen und einige Wiederholungen machen durchaus Sinn, schließlich versteht sich der Band ja als eine Art Handbuch: außer Rezensenten werden wohl nur wenige Leser das Buch in einem Schwung von Seite 1 bis 394 durchlesen. Was die Themenauswahl angeht, werden viele entscheidende Aspekte in dem Band behandelt. Natürlich bleiben auch einige Lücken. Generell sollte man hier nicht überkritisch sein: es liegt in der Natur solcher Gesamtübersichten, dass manches doch übersehen wird. Solche Lücken lassen sich leichter anmahnen, als sie in der Praxis zu füllen sind. Dennoch sollen hier einige Themen angesprochen werden, die in dem Sammelband etwas zu kurz kommen.
Das gilt zum Beispiel für die vielschichtigen Beziehungen zwischen den Konzentrationslagern und der Bevölkerung in den von Nazi-Deutschland kontrollierten Gebieten - ein zentrales Thema, das von Historikern seit der (im deutschsprachigen Raum leider nicht genügend rezipierten) Studie von Gordon Horwitz zunehmend Beachtung findet. [7] Zwar kommen einige Autoren in dem Sammelband von Benz und Distel darauf zu sprechen (insbesondere Daniel Blatman, in seinem Artikel zu den Evakuierungen und Todesmärschen gegen Kriegsende), doch dieses Thema hätte sicherlich einen eigenen Beitrag verdient gehabt. Gleiches gilt für die Außenlager, die das Gesamtbild der KZs in den letzten Kriegsjahren zunehmend bestimmten, hier aber nicht gesondert behandelt werden. Und was das Leben der Gefangenen betrifft, so verwundert es etwas, dass der Sammelband zwar einen eigenen Beitrag zur künstlerischen Tätigkeit in den Lagern enthält, aber keinen zu den Haftbedingungen (Nahrung, Hygiene, Kleidung, Tagesablauf und anderes). Auch was die Nachkriegszeit angeht, gibt es einige Themen, die mehr Beachtung verdient gehabt hätten. So gibt es keinen Artikel speziell zur Historiografie der Lager und auch nicht zur Geschichte der Gedenkstätten und zur öffentlichen Erinnerung an die KZs, einem äußerst spannenden Thema, wie Harold Marcuse unlängst gezeigt hat. [8]
Trotz dieser kleineren Mankos ist der Sammelband von Wolfgang Benz und Barbara Distel sehr zu begrüßen. Er bietet eine informative und klare Einführung in zahlreiche wichtige Aspekte der Entwicklung und Struktur der Konzentrationslager und wird wohl noch lange als wichtiges Nachschlagewerk zur Geschichte der Lager dienen.
Anmerkungen:
[1] Studien zur Geschichte der Konzentrationslager. Hrsg. von M. Broszat, Stuttgart 1970, 8.
[2] W. Benz, B. Distel (Hrsg.), Terror ohne System, Berlin 2001, 9.
[3] J. Tuchel, "Organisationsgeschichte der 'frühen' Konzentrationslager", in W. Benz, B. Distel, (Hrsg.), Instrumentarium der Macht, Berlin 2003, 9-26.
[4] U. Herbert, K. Orth, C. Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Göttingen 1998.
[5] K. Orth, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000; J.E. Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS, Paderborn 2001.
[6] Siehe besonders K. Orth, Gab es eine Lagergesellschaft? 'Kriminelle' und politische Häftlinge im Konzentrationslager, in: N. Frei u.a. (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit, München 2000, 109-134.
[7] G. Horwitz, In the Shadow of Death. Living outside the gates of Mauthausen, New York 1990.
[8] H. Marcuse, Legacies of Dachau. The uses and abuses of a concentration camp, 1933-2001, Cambridge 2001.
Nikolaus Wachsmann