Fabian Schwarzbauer: Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius' Augustodunensis und Ottos von Freising (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 6), Berlin: Akademie Verlag 2005, 305 S., ISBN 978-3-05-004112-4, EUR 69,80
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"Geschichtszeit" ist kein etablierter Begriff in der historischen Forschung. Vielmehr ist es das ausdrückliche Anliegen der vorliegenden Hamburger Dissertation aus dem Jahr 2002, dieses Konzept erstmalig als Kategorie zur Analyse historiografischer Texte zu verwenden und damit seine Aussagekraft überhaupt erst einmal nachzuweisen. Geschichtszeit wird definiert als "die Schnittmenge aus Zeit- und Geschichtsvorstellungen" (12), genauer: als "die übergeordnete Kategorie, die den wechselseitigen Bezug zwischen Zeit und historischem Geschehen in den Vorstellungen der Historiker beschreibt" (35). Als Objekt für seine Betrachtung wählt der Verfasser vier Weltchroniken von drei Verfassern aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts aus. Diese drei Autoren werden befragt, worin ihr Interesse an der Geschichte eigentlich besteht, nach welchen chronologischen Systemen (Ären) sie ihren Stoff gliedern und wie sie dabei auftretende Probleme bewältigen, nach welchen Kriterien sie historische Daten für ihre Darstellung auswählen, welche Kräfte sie als Impulsgeber für historische Entwicklungen am Werke sehen, und schließlich inwieweit sie einen Zusammenhang zwischen Zeiträumen und historischen Gegebenheiten erkennen, inwieweit sie also chronologisch definierten Einheiten einen auch inhaltlich bestimmten Epochencharakter zumessen.
Die Einzelergebnisse lassen sich nicht in wenige Worte fassen, außer vielleicht in die immer wieder neu gemachte Beobachtung, dass von den vier behandelten Chroniken eigentlich nur diejenige Ottos von Freising für diese Betrachtungsweisen etwas Nennenswertes hergibt. Denn es gilt die grundsätzlich Feststellung: "Weder der Umgang mit Geschichte noch das Zeitdenken allgemein zielten auf die Erkenntnis des äußeren oder inneren Zusammenhangs zwischen beiden Kategorien" (271). Dass hingegen allen untersuchten Texten "ein hoher Stellenwert von Zeit im historiographischen Kontext gemein ist" (276), dürfte angesichts der Gattung nicht allzu sehr überraschen.
Letztlich präsentiert der Verfasser vor allem ein negatives Ergebnis: Mittelalterliche Geschichtswerke scheinen sich dem Analyseinstrument "Geschichtszeit" weitgehend zu verschließen. Man kann darüber spekulieren, woran das liegen mag, am Objekt oder an der Untersuchungsmethode. Vielleicht waren die vier Chroniken ja nur unglücklich gewählt, doch ist es sicher kein Zufall, dass gerade das Werk Ottos von Freising, das noch am ehesten über die Kategorie "Geschichtszeit" erfasst werden kann, eigentlich gar keine Chronik im klassischen Sinne ist. Vielmehr charakterisiert es sich selbst als "Historia de duabus civitatibus", als eine Erzählung nicht der Weltgeschichte an sich, sondern - um es schlicht zu formulieren - des Kampfs zwischen Gut und Böse auf Erden. Weil außerdem auch die anderen drei Chroniken beträchtliche inhaltliche und formale Unterschiede aufweisen, kann man sich fragen, ob man sie überhaupt einer (nur scheinbar einheitlichen) gemeinsamen Gattung "Universalchronik" zuordnen sollte.
Das Gesamtergebnis ist zwar ernüchternd, aber nicht der Grund dafür, weshalb man bei der Lektüre des Buchs gelegentlich ein gewisses Unbehagen verspürt. Einiges Stirnrunzeln ruft es beim Leser zum Beispiel hervor, wenn antike und mittelalterliche Texte recht häufig aus Abdrucken in Mignes Patrologia Latina zitiert werden, auch wenn es neuere kritische Editionen gibt; wenn das Herz-Jesu-Fest als einer der wichtigsten Festtage im mittelalterlichen Kirchenjahr vorgestellt wird (28); wenn die Königswahl Friedrich Barbarossas auf 1153 datiert wird und man auf derselben Seite erfährt, dass Otto von Freising angeblich nur das erste Buch seiner Gesta Friderici vollendet haben soll (48); wenn der Indiktionszyklus "einer gesetzlichen Vorschrift Justinians (3 Jahre vor Chr.)" zugeschrieben wird (88); wenn die Septuaginta als eine dem Mittelalter geläufige lateinische Bibelübersetzung erscheint (121); und wenn schließlich der Eindruck erweckt wird, nach dem 12. Jahrhundert seien überhaupt keine Universalchroniken mehr verfasst worden (37 und 281).
Das alles sind Schnitzer, die gerade in einer Spezialarbeit zu Komputistik und Chronistik nicht vorkommen sollten, aber für sich genommen relativ bedeutungslos sind. Unangenehmer für den Leser ist die gespreizte Diktion, deren sich der Verfasser befleißigt, zumal die damit vermeintlich erzielte Präzision sehr zulasten der Verständlichkeit geht. Vielleicht extrem, aber doch symptomatisch ist die folgende Formulierung: "Zudem erweist sich die implizierte Zeitstruktur des weltchronikalen Elements der materialen Geschichte, des Ereignisses, im hohen Maß temporal relativ zu dem gewählten Berichtshorizont" (201). Über solche Sätze lässt sich lange grübeln, ebenso wie über einige sich mathematisch gebende Formeln (24, 258 f. u. ö.).
Dem Verfasser kommt es anscheinend mehr auf grundsätzliche theoretische Aspekte an als auf deren konkrete Anwendung auf die Quellen. Deshalb werden immer wieder einschlägige Theorien der bisherigen Forschung in extenso dargelegt und aus der reichlich vorhandenen Literatur Erkenntnisse zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung allgemein ausgebreitet. Ganz ausgeblendet wird hingegen ein nach Ansicht des Rezensenten überaus wichtiger Aspekt, obwohl ihm sogar der Verfasser selbst - wenn auch nur beiläufig (264) - große Bedeutung zuerkennt: das Verhältnis der Chronisten zu ihren jeweiligen Vorlagen. Denn diese prägen nicht nur den Kenntnisstand des Rezipienten, sondern natürlich auch dessen Geschichtsbewusstsein. Dass Otto von Freising sein chronologisches Gerüst weitestgehend von Frutolf übernimmt, wird immerhin erwähnt, wenngleich in den Konsequenzen nicht weiter bedacht. Woher aber Frutolf seinerseits das chronologische System und einzelne Datierungen und damit eine wesentliche Grundlage seiner "Geschichtszeit" bezieht, erfährt der Leser nicht, ebenso wenig wie bei Honorius Augustodunensis. Die Frage nach der Stoffauswahl kann aber nicht ernsthaft beantwortet werden, wenn man gar nicht weiß, was dem Chronisten überhaupt an Informationen zur Auswahl bereitstand. Und es wäre doch auch recht hilfreich zu wissen, ob die untersuchten Autoren - keiner von ihnen ist übrigens als Verfasser eines komputistischen Werks hervorgetreten - beim Erkennen oder gar beim Lösen chronologischer Probleme über ihre Vorlagen hinausgelangt sind.
Insgesamt steht in diesem Buch einem hohen theoretischen Aufwand eine ziemlich magere Ausbeute gegenüber. Der Verfasser hat mit seiner Arbeit einige durchaus interessante Fragen aufgeworfen, die eine nähere Betrachtung auf jeden Fall verdienen. Ihre Beantwortung ist er aber weitgehend schuldig geblieben, denn dazu hätte es einer wesentlich breiteren Quellengrundlage bedurft. Oder anders gesagt: Erst wenn eine größere Zahl von Geschichtswerken auf diese Aspekte hin überprüft worden ist, kann man die Tragfähigkeit des Konzepts "Geschichtszeit" wirklich beurteilen. Wäre es nicht besser gewesen, sich auf wenige aussagekräftige Textbeispiele zu beschränken und den Gegenstand im Rahmen eines kleineren - dann zweifellos sehr lesenswerten und anregenden - Essays zu behandeln statt in einer ermüdenden und letztlich ergebnisarmen Dissertation von 300 Seiten?
Roman Deutinger