Rezension über:

Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Der Wandel lokaler Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 9), Göttingen: Wallstein 2005, 623 S., ISBN 978-3-89244-946-1, EUR 54,00
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Rezension von:
Hartwin Spenkuch
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Hartwin Spenkuch: Rezension von: Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Der Wandel lokaler Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 12 [15.12.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/12/9378.html


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Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte

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Mit Patrick Wagners tief schürfendem Band hat die politische Sozialgeschichte zu den Landräten und den großgrundbesitzenden, dörflichen und bäuerlichen Eliten in den ostelbischen Kreisen Preußens zwischen Vormärz und Jahrhundertwende bestes Analyseniveau und geradezu Synthesequalität erreicht. Der ansonsten mit Veröffentlichungen zur Weimarer und NS-Zeit hervorgetretene Autor hat mit seiner bei Ulrich Herbert in Freiburg angenommenen Habilitationsschrift den Transformationsprozess von der Erosion ständisch gebundener Herrschaft über eine Improvisationsphase im Umfeld von 1848 und die sozial verbreiterte Neuorganisation 1872-83 bis zur Verfestigung spezifischer Strukturen in den 1890er-Jahren detailliert rekonstruiert. Die überzeugende Argumentation stützt sich auf die umsichtige Auswertung mehrerer hundert Aktenbände vor allem im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem. Diese höchst lobenswerte archivalische Unterfütterung verleiht Wagners Darlegungen autoritative Geltung. Zwar konnte er auf diverse jüngere Arbeiten, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten erst die Grundlage für eine solche Leistung legten [1], aufbauen, aber das schmälert Wagners großen Fleiß, starke empirische Fundierung, stringente Konzeption und ansprechende Darstellungsweise nicht.

Wagner wählte die Provinzen Ost- und Westpreußen sowie den Regierungsbezirk Breslau beispielhaft aus, um einen bürgerlich-bäuerlich dominierten Landstrich mit großer Gütermobilität sowie liberaler Ausrichtung und eine adelig beherrschte Region mit relativer Güterkonstanz und konservativer Ausrichtung vergleichen zu können. Im ersten Teil (37-288) schildert Wagner farbig die Kombination von geringer Staatspräsenz am Ort, rudimentärem Wissen über lokale Verhältnisse und daraus folgender unzulänglicher Normendurchsetzung, den "staatlichen Geiz" (75) gerade bei der Entlohnung und Ausrüstung von Landräten, die zahlreichen Amtswechsel im Gefolge der Revolution 1848/49 und den beginnenden Wandel vom Gutsbesitzer-Landrat zum auf Kreisebene startenden professionellen Laufbahnbeamten. Im zweiten Teil (291-375) geht es um Konzeption und Wirkung der Kreisordnung von 1872 auf die Zusammensetzung der Kreisgremien. Im dritten Teil (379-567) werden erneut der Wandel zum Laufbahnbeamten beim Landratsamt, die Neujustierungen zwischen lokalen Machteliten und Landräten nach 1872, das Verhältnis Gutsbezirke und Landgemeinden sowie die Struktureigenheiten Ostelbiens als "Entwicklungsland mit starker Lobby" im späten 19. Jahrhundert thematisiert. Diese Gliederung bedingt gewisse Überschneidungen.

Die von Wagner erzielten reichen Einzelergebnisse können hier nicht ausführlich referiert werden. Bei einigen in der Historiografie strittigen Fragen, etwa der seit Eckart Kehr diskutierten Frage um den Charakter der "Puttkamerschen Säuberung" im Beamtenbereich (511-526) bestätigt er die zuweilen bestrittene antiliberale Stoßrichtung. [2] In den zwei zentralen Untersuchungsfeldern, nämlich der Funktion des Landrats und seinem Zusammenwirken mit den nach Rekrutierung und Tätigkeit untersuchten Gremien auf der lokalen bzw. Kreis-Ebene betont Wagner zu Recht die Erweiterung der Gremien (Gemeinde- und Amtsvorsteher, Kreistagsmitglieder) um großbäuerliche Repräsentanten sowie deren Wendung vom Liberalismus zum Rückhalt der Konservativen. Im Einklang mit bisherigen Forschungen [3] wird der Landrat als "Broker" der Kommunikation zwischen lokaler Gesellschaft und Berliner Zentrale sowie als "Entwicklungshelfer" (413, 416 u. ö.) klassifiziert, seit den 1850er-Jahren nicht zuletzt als Wahlmanager, der mit den lokalen Machteliten zu kooperieren hatte, um deren gouvernementale Stimmabgabe zu bewirken. Praktische Leistungsfähigkeit, politische Zuverlässigkeit und ein persönlicher Habitus, der Jovialität im Umgang mit Durchsetzungskraft in der Sache kombinierte, hießen die drei wichtigsten Kriterien für Landräte, die von Bauern und Landgemeinden als "Vormünder" (583) akzeptiert werden wollten. Während laut Wagner insgesamt Hugo Preuß' Sentenz des "Kondominiums von Landräten und Großgrundbesitz" (558) zutrifft, plädiert er (587) bei den Landräten für das Modell der "organisational brokerage" nach S. N. Eisenstadt / L. Roninger.

Richtigerweise liest man gleich eingangs (19 f.), dass die zuweilen propagierte Vorstellung von symmetrischen Aushandelungsprozessen unangemessen sei, vielmehr sehr wohl spezifische Herrschaftsverhältnisse in Rechnung zu stellen sind. Wagners breite Empirie belegt in der Folge die zwischen Jahrhundertmitte und Jahrhundertwende noch wachsende Dominanz der staatlichen Instanzen gegenüber widerstrebenden lokalen Funktionären oder oppositionell gestimmten Gruppen. Wagner betont mehrfach, dass "allein die Protektion der Bürokratie die Macht des adligen Großgrundbesitzes sicherte" (570). Umgekehrt setzte sich aber auch, wie (u. a. 590 f.) in einem Halbsatz angedeutet, die "den Staat" repräsentierende Verwaltungselite Preußens personell zu einem Gutteil aus den Brüdern, Klassenverwandten und politischen Gesinnungsgenossen der ländlich-adeligen Eliten zusammen. In diesem Sinne ist die Bürokratie nicht nur in ihrer Rolle als Überwinder ständischer Strukturen zu sehen, sondern häufig als Gesamtinteressenwahrer der ländlich-adeligen Eliten verstehbar - anfangs selbst gegen Widerstreben in deren Reihen. Die Repräsentanten der in diversen Regionen Ostelbiens dominanten Landgemeinden nach 1872 als Juniorpartner der alten Eliten gewonnen zu haben, bleibt die spezifische Modernisierungsleistung der preußischen Bürokraten.

Die konzise Zusammenfassung (569-592) [4] lässt sich - ungeachtet des Vorbehalts, eine "viel komplexere Interaktion" (569) als die bisherige Forschung gefunden und trotz der Begriffswahl, nicht einen "traditionellen", sondern einen "spezifischen" Weg in die Moderne (591) nachgezeichnet zu haben - doch als Spielart der kritischen, von zeitgenössischen Liberalen wie modernen Sozialhistorikern gepflogenen Sichtweise der Herrschaftsverhältnisse Ostelbiens lesen. Zumal am Schluss betont wird, dass grundlegender Wandel erst 1918/20 erfolgte, nämlich mit dem Wegfall der Gesindeordnung, dem gleichen Kommunalwahlrecht, dem Aufstieg von Gewerkschaften und SPD auch in den ostelbischen Landkreisen, insbesondere dem Wegbrechen der konservativen Bürokratiespitzen in Berlin. Wagner vermutet sogar, dass diese späte Emanzipation der Bauern von obrigkeitlicher Anleitung eine fatale Belastung für den Parteienstaat Weimar war, ja ihren Übergang in das radikalnationalistische Lager mitbedingte.

Dem Rezensenten scheinen wenige Kritikpunkte angebracht. Es fehlen unverständlicherweise Personen- und Sachregister, die dem Leser das Auffinden der Namen und der Sachfragen, die häufig an mehreren Stellen auftauchen, wesentlich erleichtern würden. Der Band ist insgesamt gut geschrieben, aber zuweilen ermüden die in extenso dargebotenen Zitate aus zeittypischen bürokratischen Berichten etwas und die umfängliche "thick description" zweier Beispielfälle (93-110, 361-372) hätte kürzer ausfallen dürfen, ohne dass die geschilderten, vom Leitbild guten, alten Rechts getragenen Unterschichten-Revolten verunklart worden wären. Zu Detailfragen lässt sich anmerken, dass die Ablösung des nicht hinreichend stramm antipolnisch und antiliberal agierenden Danziger Oberpräsidenten v. Ernsthausen nicht Innenminister Herrfurth betrieb, sondern Bismarck persönlich (520). Lokal- und Kreisschulinspektoren wurden nicht primär aus finanziellen Gründen nicht flächendeckend installiert (567), sondern weil Konservative und Zentrum wie die Kultusminister seit R. v. Puttkamer die Volksschulen und deren (liberale) Lehrer durchaus unter geistlicher Aufsicht belassen wollten. Zwei Personen werden fehlerhaft eingeführt: Mit dem westpreußischen Herrenhausmitglied Heinrich v. Rittberg (164) ist der Schlesier Ludwig Graf v. Rittberg gemeint, und Bismarcks "Onkel Hans" v. Kleist-Retzow wird mehrfach fälschlich Hugo genannt (315, 344 u. ö.).

Summa summarum: Nach Patrick Wagners fundiertem Opus dürfte es schwer fallen, ein grundlegend anderes Bild von Landräten und Herrschaftsverhältnissen im Ostelbien des 19. Jahrhunderts zu entwerfen. Mehr ist mit einem Band nicht zu leisten.


Anmerkungen:

[1] Diese Titel von Heinrich Heffters klassischem Opus zur Selbstverwaltung und Reinhart Kosellecks Preußenbuch über diverse bei der Parlamentarismus-Kommission veröffentlichte Werke und die Forschungen zum preußischen Adel insbesondere im Umfeld Heinz Reifs bis hin zur Agrar- und Verwaltungsgeschichtsforschung in Bundesrepublik bzw. DDR sowie zu kulturanthropologisch inspirierten Arbeiten über Herrschaftsverhältnisse finden sich im Literaturverzeichnis (603-621) aufgelistet.

[2] Vgl. auch Patrick Wagner: Die Puttkamer'sche Säuberung auf dem Lande. Der administrative Feldzug gegen den ostpreußischen Gutsbesitzerliberalismus nach 1880, in: Karl Christian Führer u. a. (Hg.): Eliten im Wandel (= Festschrift für Klaus Saul), Münster 2004, 338-364.

[3] Vgl. zuletzt Christiane Eifert: Paternalismus und Politik. Preußische Landräte im 19. Jahrhundert, Münster 2003.

[4] Vgl. als Kurzversion für Interessierte mit knappem Zeitbudget auch Patrick Wagner: Gutsherren - Bauern - Broker. Die ostelbische Agrargesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 2 (2004), 254-278.

Hartwin Spenkuch