Anton Brandenberger: Ausbruch aus der "Malthusianischen Falle". Versorgungslage und Wirtschaftsentwicklung im Staate Bern 1755-1797 (= Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit; Bd. 6), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 544 S., 72 Diagr., 25 Tab., ISBN 978-3-03910-217-4, EUR 75,90
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Gleich mit seinen ersten Sätzen macht der Verfasser klar, was er erklären will: "Im Jahre 1770 zählte der Kanton Bern rund 200.000 Einwohner. 80 Jahre später waren es doppelt so viele. Was früher Jahrhunderte beanspruchte, vollzog sich nun - europaweit - innerhalb einiger Jahrzehnte." Diese spektakuläre Entwicklung war für die Zeitgenossen nur schwer zu deuten. Thomas Malthus, der die Wechselwirkungen zwischen Demografie und Ökonomie als einer der ersten in allgemein gültige Regeln zu fassen versuchte, formulierte 1798 eine Bevölkerungstheorie, die das Gegenteil von dem prognostizierte, was geschah. Der bloß arithmetisch steigenden Nahrungsmittelproduktion stellte Malthus eine tendenziell geometrisch wachsende Bevölkerung gegenüber. Die daraus hervorgehende Lücke wird mit Subsistenzkrisen geschlossen, welche die Sterblichkeit in die Höhe treiben und die Fruchtbarkeit beeinträchtigen, wobei Präventionsmaßnahmen diese schmerzhaften Friktionen bis zu einem gewissen Grad abmildern können.
Die pessimistische Populationstheorie von Malthus steht in offensichtlichem Gegensatz zum erfolgreichen Entwicklungsgang, der just damals jahrhundertealte Wachstumsschranken durchbrach. Diese Diskrepanz nimmt Brandenberger in seiner bei Volker Reinhardt und Urs Altermatt in Fribourg eingereichten Dissertation als Ausgangspunkt. Drei Leitfragen stehen im Zentrum: Wie stand es um die Versorgungslage Berns in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Wie gelang es Bern, der 'Malthusianischen Falle' zu entkommen? Welche langfristigen Implikationen hatte der von Bern eingeschlagene Weg? Brandenberger nimmt nicht in Anspruch, ein viel beschriebenes Kapitel völlig neu zu schreiben. Es geht ihm vielmehr darum, Perspektiven graduell zu verschieben und die Spurensuche situativ zu intensivieren. Neue Erkenntnisse verspricht er sich durch die Kombination dreier Faktoren. Erstens bezieht er das gesamte damalige Territorium des Staates Bern ein, das auch das Waadtland und Teile des Aargaus umfasste. In dieser Hinsicht geht er über die bernischen Standardwerke hinaus, auf deren Befunde er sich sonst in vielerlei Hinsicht stützen kann, beschränkten sich diese doch auf das Gebiet des heutigen Kantons Bern in den Grenzen von 1980. [1] Zweitens erschließt er teilweise bisher nicht oder kaum berücksichtigte Archivquellen, so die für seine Studie grundlegenden Akten der Kornkammer. Drittens setzt er ökonomische Theorien und statistisch-ökonometrische Methoden ein und stellt sich damit explizit in die Tradition der angelsächsischen Wirtschaftsgeschichte. In Abgrenzung gegenüber der Sozialgeschichte und der neuen Kulturgeschichte positioniert sich Brandenberger in einer Wirtschafts- und Regionalgeschichte, die den interdisziplinären Diskurs mit der Ökonomie sucht, um die innere Logik des Wirtschaftswachstums erklären zu können, und dabei gleichzeitig die Akteure in ihren Intentionen und Handlungen mit einzubeziehen versucht (Teil 1).
Sein Analyseraster mit den Elementen Bevölkerungswachstum, Kapitalakkumulation, Bodenbewirtschaftung, Institutionenwandel und Zufallsschock gewinnt der Verfasser unter Beizug ökonomischer Modelle. Eingehend diskutiert er die unterschiedlichen Ansätze zur Analyse von Wirtschaftswachstum und hebt die zentrale Rolle der Innovationen hervor, die bei Malthus kaum berücksichtigt werden (Teil II). Ein Schlüsselbegriff Brandenbergers ist die agrarische Tragfähigkeit, die Auskunft gibt über das Verhältnis zwischen Bevölkerungsgröße einerseits und Nahrungsspielraum (unter Einschluss des Außenhandels), Technologieniveau, Gesellschaftsorganisation sowie Umwelt andererseits. Ausgehend von der systemtheoretischen Sicht, wonach Versorgungskrisen als Friktionen zwischen dem agrarischen und dem demographischen System zu verstehen sind, wirft er ein Schlaglicht auf das Kräftespiel der beiden Systeme. Dies geschieht äußerst differenziert. Den Kalorienverbrauch berechnet er in Abhängigkeit der Alters- und Geschlechterstruktur sowie der Zugehörigkeit zu Agrarzonen. Die zeitgenössischen Datenerhebungen werden auf der einen Seite als Innovation gewürdigt, auf der anderen Seite aber auch in ihren Unschärfen diskutiert. Als methodische Antwort darauf operiert er mit Worst-case- und Best-Case-Szenarien. Neben dem dominanten Getreide, das 1774 knapp 60 Prozent des Kalorienbedarfs zu decken vermochte, zieht er auch die weiteren Kalorienspender Milch, Milchprodukte, Eier, Fleisch, Fisch, Kartoffeln, Gemüse, Obst und Beeren mit ein, wobei es sich aus Quellengründen bei vielen Posten um Schätzungen handelt (Teil III). Zwei der bei der Analyse der Tragfähigkeit noch ausstehende Bereiche kommen unter der Fragestellung nach dem Zusammenspiel von Getreidemarkt und Wirtschaftsentwicklung zur Sprache: die Lagerung von Getreide und der grenzüberschreitende Getreidehandel. Auch hier müssen einige exemplarische Resultate genügen. Das Anlegen von privaten Vorräten war weniger eine Folge von Investitionsentscheiden, sondern Ausfluss eines Vorsorgesparens, möglicherweise auch eines 'Zwangssparens', wenn bei überdurchschnittlichen Ernten nicht alles Getreide einen Käufer fand. Deutlich mehr als die Privatvorräte, die jeweils nur einige wenige Prozente der Gesamternte ausmachten, leisteten die Getreideimporte zur Versorgungslage der Berner Bevölkerung. Dabei befand sich Bern in einer vorteilhaften räumlichen Lage. Die Nachbarterritorien bildeten das Auffangbecken für Überschüsse, während im Gegenzug ein äußerer Territorialkranz (Elsass, Franche-Comté, Schwaben, Savoyen) als Reservoir diente, das man bei Unterversorgung anzapfen konnte. Aufgrund seiner Größe und seiner vielfältigen regionalen Zusammensetzung verfügte der Staat Bern gleichzeitig auch über einen Binnenmarkt, der eine autochthone Entwicklung ermöglichte und begünstigte; sie nahm Ende des 18. Jahrhunderts Gestalt an in Form einer agrarzentrierten Modernisierung (Teil IV).
In einem letzten Hauptteil wird das staatliche Krisenmanagement untersucht. Ausgehend von der Tatsache, dass die Höhe der Getreidepreise einen statistisch signifikanten Einfluss auf die Geburten- und Mortalitätsrate ausübte, zählte die Preisstabilisierung zu den Kollektivgütern, für die der Staat aufkommen musste. Dies auch deshalb, weil mit dem paternalistischen Fürsorgeideal und der Herrschaftssicherung Werte und Ziele auf dem Ziel standen, die sich nicht in monetären Größen ausdrücken ließen ('moral economy'). Der Staat kaufte Getreide, wenn es im Überfluss vorhanden war, und stieß es ab, wenn das Angebot knapp und die Preise hoch waren. In der Realisierung stellten sich verschiedene Schwierigkeiten. Zu nennen ist zum einen die regionale Heterogenität. Was der alpinen Zone entgegenkam, konnte den Bedürfnissen des Flachlandes zuwiderlaufen; was in der Waadt Sinn machte, musste dem deutschen Landesteil nicht zwingend förderlich sein. Zum anderen gab es Probleme, wenn das nähere Ausland Exportsperren verhängte und das Getreide von weit entfernten Gebieten wie Sardinien, Sizilien oder gar Afrika importiert werden musste, was die Kosten für den Staat massiv erhöhte.
Ein zweiter Themenbereich betrifft den institutionellen und ökonomischen Wandel, wie er sich in Form der Agrarmodernisierung - für Brandenberger der Schlüssel zum Ausbruch aus der 'Malthusianischen Falle' - sowie der zeitweiligen Liberalisierung der Getreidepolitik manifestierte. Eine entscheidende Rolle schreibt Brandenberger dabei der 1759 gegründeten Oekonomischen Gesellschaft Bern (OeG Bern) zu. Da die wichtigen Verwaltungsfunktionen letztlich nur einem kleinen Personenkreis, zu dem viele Mitglieder der OeG Bern gehörten, vorbehalten waren, verbreiteten sich die neuen Ideen quasi durch personelle 'Unterwanderung'. Von großer Bedeutung war das kommunikative Potential der Berner Ökonomen, die Kontakte zu anderen aufgeklärten Magistraten, Wissenschaftlern und Literaten europaweit nutzten, um neue Ideen und Lösungen zu finden. Zudem profitierte man auf Regierungs- und Verwaltungsebene auch ganz direkt von der OeG Bern, die mit ihren personellen Verflechtungen und ihrer regionalisierten Struktur ein Kommunikationsnetz über das Land legte, das die politische Handlungsfähigkeit deutlich erhöhte (Teil V).
Weniger als Kritik im Sinne von 'was man auch noch hätte machen können', was angesichts der in dieser Dissertation verarbeiteten Materialfülle unangebracht wäre, sondern als Ausblick für anschliessende Forschungen, soll auch ein Defizitbereich der Studie angedeutet werden. Trotz der Absichtserklärung des Verfassers werden die Handlungen und Intentionen der Akteure nur am Rande berücksichtigt. Hier könnte der stärkere Einbezug von Diskursquellen weiterführen, wie sie sich für das bernische Beispiel im Quellenkorpus der OeG Bern in großem Umfang finden lassen. Gerade die Darstellung der Berner Ökonomen stützt sich jedoch größtenteils nicht auf eigene Quellenarbeit, sondern auf die ältere Forschungsliteratur oder auf eine einschlägige neuere Arbeit zu Zürich. [2]
Insgesamt liefert Brandenberger sowohl für die bernische wie für die internationale Geschichtsforschung eine Fülle von differenzierten Befunden, Neubewertungen sowie Forschungsanregungen und setzt all dies in Bezug zu aktuellen Debatten in der ökonomischen Theorie. Damit ist ihm ein außerordentliches Werk gelungen, das mit der Breite seines interdisziplinären Zugangs und seiner stringenten Argumentation überzeugt.
Anmerkungen:
[1] Christian Pfister: Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern 1700-1914, Bern 1995. Ders. / Hans-Rudolf Egli (Hg.): Historisch-statistischer Atlas des Kantons Bern 1750-1995. Umwelt - Bevölkerung - Wirtschaft - Politik, Bern 1998; Christian Pfister: Landesgeschichtliche Forschung mit der historisch-statistischen Datenbank Bernhist, in: Landesgeschichte und Historische Demographie, hg. von Michael Matheus / Walter Rödel, Stuttgart 2000, 165-177.
[2] Peter Rásony: Promotoren und Prozesse institutionellen Wandels. Agrarreformen im Kanton Zürich im 18. Jahrhundert, Berlin 2000.
Martin Stuber