Rezension über:

Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Papst Julius II. Moses - Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker (= Kleine politische Schriften; Bd. 12), Göttingen: Wallstein 2004, 244 S., 75 Abb., ISBN 978-3-89244-804-4, EUR 27,00
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Rezension von:
Michael Rohlmann
Rom
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Rohlmann: Rezension von: Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Papst Julius II. Moses - Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker, Göttingen: Wallstein 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/7862.html


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Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Papst Julius II.

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Die Geschichte von Michelangelos Grabmonument für Papst Julius II. ist in ihren Grundzügen bekannt. 1505 war ein Freigrab geplant, welches in der Peterskirche aufgestellt werden sollte: ein mächtiger Stufenbau, unten von den Statuen der "Prigioni" ("Gefangenen") und Viktorien umgeben, oben von Sitzstatuen des Moses, Paulus und mehrerer Allegorien bekrönt und gipfelnd in einer erhobenen Figur des Papstes. Nach Julius' Tod folgten 1513 und 1516 Verträge, in denen das Projekt zu einem Wandgrabmal verwandelt ist. Die Errichtung des Monuments wurde schließlich 1532/35 in San Pietro in Vincoli begonnen und - nochmals verändert - 1542/45 fertig gestellt. Lange galt dieses ausgeführte Werk vorrangig als trauriger Abschluss der jahrzehntelangen tragischen Planungsgeschichte, in der ein großartiges Anfangsprojekt immer weiter reduziert und verflacht worden sei. Doch in den letzten Jahren erfährt es neue Wertschätzung. Eine Restaurierung ließ seine künstlerischen Qualitäten hervortreten, vor allem Claudia Echinger-Maurach und Georg Satzinger haben sie analysiert.

Franz-Joachim Verspohl legt nun einen handlichen Band vor, in dessen Zentrum Michelangelos Figur des Moses steht. Dabei wiederholt und vertieft Verspohl Thesen, die er 1991 erstmals publiziert hat. [1] Verspohl sieht in der Moses-Statue nicht so sehr das Charakterbild einer Persönlichkeit, sondern vielmehr einen konkreten Moment ihres Lebens: Moses im Dialog mit Gott. Gott kündige Moses den Tod an, Moses werde das gelobte Land selbst nicht betreten. Moses imaginiere seinen Todeskampf und durchlebe die Versagung seines Lebensziels. Darauf deuteten der abrutschende linke Fuß und der Griff zum Bauch als dem Sitz des Lebens. Die Versagung des Lebensziels stehe überdies in Parallele zum Schicksal Julius' II., der ebenfalls sein Ziel einer machtpolitischen Konsolidierung des Papsttums nicht erreicht habe. Doch rutscht bei der Statue der Fuß wirklich ab? Ist die Handhaltung des Moses nicht von dem künstlerischen Vorbild der Statue, Donatellos "Johannes Evangelista", inspiriert? Spricht Moses sitzend und über die Schulter hinweg auf gleicher Augenhöhe mit Gott? Müsste Moses vor Gott nicht vielmehr anbetend niederfallen, so wie in den Darstellungen des Gottesdialogs bei Michelangelos Künstlerkollegen? Und wurde Julius II. vor seinem Tod nicht doch noch als Befreier Italiens bejubelt, der Bologna wiedergewonnen und die Franzosen wie durch ein Wunder aus Italien vertrieben habe? [2]

Eine Schriftquelle und neue Beobachtungen an der Statue selbst lassen bei der Moses-Figur eine Umarbeitung vermuten. Moses sollte mit seinem Gesicht nicht wie heute zur Seite, sondern zunächst frontal nach vorne blicken. Ingeniös inszenierte Michelangelo diese Veränderung der Statuenhaltung als Körperbewegung des Dargestellten, als Mittel zur Verlebendigung des Steins. Der Verlauf von Moses langem Bart verweist auf die vorherige Stellung des Kopfes, Moses - nicht Michelangelo - habe ihn gerade gedreht. Verspohl kann zeigen, dass die Veränderung der Kopfhaltung aus dem Konzeptionswandel des Grabmals resultiert. Die Moses-Statue wurde 1513/16 begonnen, als ihre Aufstellung noch im Obergeschoss des Monuments vorgesehen war. Dort hätte sie über die tiefer stehenden Betrachter hinweggeblickt. Als die Figur jedoch später in die Mitte des Untergeschosses rückte, musste das Gesicht sich vom auf gleicher Höhe befindlichen Betrachter abwenden, um der Statue ihre Autonomie zu sichern.

Zusammen mit dem "Moses" begann Michelangelo 1513/16 auch die beiden Prigioni des Louvre. Verspohl fasst die drei Skulpturen als Ensemble auf, greift Michelangelo in ihrer Formensprache doch auf die drei Figuren der antiken Laokoongruppe zurück. Auch inhaltlich seien "Moses" und "Gefangene" eng aufeinander bezogen. In den Prigioni sieht Verspohl dabei Personifikationen der Künste. So hatte 1553 schon Condivi die "Gefangenen" interpretiert. Attribute, die bei den Louvre-Prigioni bozziert sind, können vielleicht ebenfalls für diese Deutung sprechen. Moses galt den Renaissancepäpsten zwar als Rollenvorbild eines Gesetzgebers und Anführers des Gottesvolkes [3], doch für Verspohl erscheint er im Kontext der "Sklaven" vor allem als Vater und Garant der Künste. Der "Musenlenker" erinnere so an den Kunstförderer Julius II. und mahne künftige Nachfolger zu ähnlichem Mäzenatentum: Kunst- statt Herrscherpropaganda. Freilich lassen sich in der anschaulichen Form der Moses-Statue keine Anzeichen für die von Verspohl vermutete Rolle als Musenlenker entdecken. Auch waren "Moses" und Prigioni in den Projekten von 1513/16 räumlich nicht unmittelbar aufeinander bezogen. Als eine Nebeneinanderstellung der drei Figuren 1542 am ausgeführten Grabmal möglich wurde, lehnte Michelangelo sie ab.

Verspohl ergänzt in seinem Buch die Deutung der Mosesfigur um eine neue, zusammen mit Horst Bredekamp entwickelte Rekonstruktion und Interpretation des frühen Freigrab-Projekts von 1505. [4] Der Vorschlag berücksichtigt die von Vasari und Condivi für das erste Projekt genannte Statuenanzahl (40 bzw. über 40). Die den Grabsockel umstehenden 20 Prigioni seien - so Verspohl und Bredekamp - schon 1505 als Personifikationen der Tugenden und Künste gedacht gewesen. Mit ihnen alludiere Papst Julius aus dynastischen Gründen auf das einst von ihm selbst bestellte Bronzegrab seines Onkels Sixtus IV., das mit weiblichen Personifikationen von Tugenden und Freien Künsten geschmückt ist. Doch ist die Interpretation der Prigioni nicht unproblematisch. Vasari erklärte sie 1550 - anders als drei Jahre später Condivi - als Darstellungen unterworfener Provinzen. Vorstudien zu den Figuren zeigen zudem höchstens Helm und Panzer als Attribute, bei den gezeichneten Grabmalsentwürfen in Florenz und Berlin (1513 oder wenig früher) sind die Gefangenen ebenfalls noch nicht als Allegorien der Künste charakterisiert. Der Triumphcharakter des geplanten Freigrabs, seine Vorbilder in antiker Kaiserkunst und sein auf Gewalt, Kampf und körperliche Züchtigung rekurrierendes Figurenpersonal passen zudem zu Charakter, Methoden und Zielen des als "Warrior Pope" geltenden Herrschers. [5] Vielleicht wurde den Prigioni die Deutung als Künste also erst nachträglich aufgezwungen, umso die nach Julius' Tod problematisch gewordene militärisch-imperiale Geste des Grabmals abzuschwächen. Condivi verschweigt bezeichnenderweise die 1505 neben den Gefangenen geplanten Viktoriengruppen.

Vielleicht kann auch ein in New York verwahrter Wandgrabentwurf des Juliusmonumentes bei dem Verständnis der Frühphase der Grabmalsplanung helfen. Meist wird das Blatt als ein von Julius 1505 abgelehnter Konkurrenzentwurf zu dem Freigrabprojekt angesehen, als einer der von Michelangelo nach seiner eigenen Aussage dem Papst zunächst vorgelegten "vielen Entwürfe" ("molti disegni"). Verspohl und Bredekamp lehnen die frühe Datierung bzw. sogar die Authentizität des Blattes ab, übersehen dabei freilich die Existenz einer Zweiten, dem New-Yorker Projekt unmittelbar verwandten Grabskizze, die Joannides 1991 auf dem Verso einer Michelangelo-Zeichnung des Louvre entdeckte. [6] Auf dem New-Yorker Blatt schwebt in einer großen Nische die Madonna über dem auf seinem Sarkophag von Engeln gehaltenen verstorbenen Papst. Im unteren Register zeigen zwischen Statuen der Caritas zwei Reliefs poetische Erfindungen zur Bedeutung des päpstlichen Familiennamens Rovere (ital. "Eiche"): Engel bringen vom Himmel den Wappeneichbaum mit seinen Früchten den Menschen als Nahrung hinab. Formkorrespondenzen binden unteres und oberes Register zusammen: Wie unten der Eichbaum zu den Menschen hinabschwebt, so oben die Madonna mit ihrem segnenden Kind zu Julius. In halbrund geschlossenen Nischen finden sich unten weibliche Liebespersonifikationen mit Kind und Flamme bzw. oben die liebevoll ihr Kind bringende Gottesmutter. Echinger-Maurach hat den Concetto des Gesamtentwurfs erkannt: Auf Erden erwiesene Caritas und Wohltaten des Papstes lassen ihn nach seinem Tod selbst zum Empfänger des himmlischen Heilslohns werden. [7]

Die Bedeutung, die dem Familiennamen Rovere des Papstes in dem New-Yorker Projekt zukommt, wirft neues Licht auf das gleichzeitige Freigrabprojekt. Spielt bei ihm ähnliche Namenspanegyrik eine Rolle? 1505 führte der Rovere erst zwei Jahre seinen Papstnamen Julius II., zuvor nannte man ihn mehr als dreißig Jahre als Kardinal nach seiner Titelkirche San Pietro in Vincoli schlicht "Vincoli" (ital. "Fesseln", "Binden"). Schon Hartt vermutete hierin einen Schlüssel zum Verständnis des Freigrabprojekts. [8] Wie immer man die Prigioni ikonografisch im Detail deuten mag, als Gefesselte lassen sie sich einfügen in einen Diskurs über Gebundenheit, Überwindung und Befreiung, der sich an dem geplanten Figurenprogramm des auch selbst freigestellten Grabmonuments entwickeln könnte und der im Kardinalsnamen Vincoli des Papstes einen persönlichen Bezug besitzt. [9] Die namenspanegyrische Dimension sowohl des New-Yorker Entwurfs als auch des Freigrabprojekts lässt die inhaltlich-konzeptionelle Erfindung beider verwandt erscheinen: Offenbar konkurrierte ein "Rovere-Concetto" mit einem "Vincoli-Concetto", für den sich der Papst 1505 dann entschied.

Doch Julius II. begann 1506, statt weiter an seinem Grab zu arbeiten, lieber im Leben die militärischen Eroberungen und Triumphe zu realisieren, die Michelangelos imperiales Freigrabprojekt nur als Ansprüche implizierte. Michelangelos 1506-08 ausgeführte Bologneser Herrscherstatue des Papstes wurde zum Denkmal dieser Erfolge und zum Gegenentwurf des Grabes: der Triumph von Tat und Leben über das Monument des Todes. Als Michelangelo nach Vollendung der Sixtinischen Decke 1512 frei für neue Aufgaben war, hatte sich die Situation freilich wieder gewandelt: Die herrschaftspolitische Stellung des Papstes war bedroht, sein Tod schien nah, sein Ruf war ruiniert als Gewaltmensch und blutiger Kriegstreiber, das Bologneser Standbild schließlich gestürzt und zerschlagen. Das Grab musste daher neu konzipiert werden. An eine beherrschende, freie Aufstellung in einem von künftigen Päpsten einst zu vollendenden Neu-St. Peter war nicht zu denken. Zugleich musste die militärische Siegesgeste zurückgenommen werden, um ein künftiges Schicksal wie das der Bologneser Statue zu vermeiden. Anlass für den Statuensturz war dort der Vorwurf gewesen, Julius habe sich frevlerisch mit seinem über der Portallünette der Bologneser Hauptkirche angebrachten Abbild räumlich und damit hierarchisch der in der Lünette selbst dargestellten Madonna mit dem Christuskind übergeordnet. Michelangelos neue Grabentwürfe wirken als direkte Antwort darauf: Der Sockel des "Vincoli-Projekts", dessen Steinmaterial schon beschafft war, wird mit dem Oberteil des einst abgelehnten "Rovere-Projekts" verschmolzen. So liegt der Papst jetzt demütig der Madonna zu Füßen. So erhalten die in den Nischen des Untergeschosses über Besiegte schreitenden Viktorien jetzt in der Nische des Obergeschosses in der Gruppe "Madonna über liegendem Papst" ein Formpendant, das ihren profanen Triumphcharakter relativiert.

Verspohl hat in seinem Band für ein Hauptwerk der italienischen Kunstgeschichte eine neue Deutung vorgelegt. Freilich reizt diese zum Widerspruch.


Anmerkungen:

[1] Franz-Joachim Verspohl: Der Moses des Michelangelo, in: Städel-Jahrbuch 13, 1991, 155-176.

[2] Vgl. zur Kritik an Verspohls Moses-Deutung: Sabine Poeschel: Moses und die Frauen des Jakob. Das Konzept des Julius-Grabes von 1545, in: Sabine Poeschel / Reinhard Steiner / Reinhard Wegner (Hrsg.): Heilige und profane Bilder. Kunsthistorische Beiträge aus Anlass des 65. Geburtstags von Herwarth Röttgen, Weimar 2001, 55-78, hier 59-62.

[3] Leopold D. Ettlinger: The Sistine Chapel before Michelangelo. Religious Imagery and Papal Primacy, Oxford 1965; Charles Stinger: The Renaissance in Rome, Bloomington 1985.

[4] Vgl. Horst Bredekamp: Ende (1545) und Anfang (1505) von Michelangelos Juliusgrab. Frei- oder Wandgrab?, in: Horst Bredekamp / Volker Reinhardt (Hrsg.): Totenkult und Wille zur Macht. Die unruhigen Ruhestätten der Päpste in St. Peter, Darmstadt 2004, 61-83.

[5] Christine Shaw: Julius II. The Warrior Pope, Oxford 1993.

[6] Paul Joannides: La chronologie du tombeau de Jules II. A propos d'un dessin de Michelo-Ange découvert, in: Revue du Louvre 41/2, 1991, 33-42; Dominique Cordellier: Fragments de jeunesse: deux feuilles inédites de Michel-Ange au Louvre, in: ebd., 43-54; Christoph Luitpold Frommel, in: Rinascimento da Brunelleschi a Michelangelo. La rappresentazione dell'architettura, hrsg. v. Henry Millon / Vittorio Magnago Lampugnani (Ausstellungskatalog Venedig, Palazzo Grassi), Mailand 1994, 600; Paul Joannides: Michel-Ange, élèves et copistes (Musée du Louvre. Musée d'Orsay. Département des Arts Graphiques. Inventaire général des dessins italiens, VI), Paris 2003, 102-107.

[7] Claudia Echinger-Maurach: Zwischen Quattrocento und Barock: Michelangelos Entwurf für das Juliusgrab in New York, in: Joachim Poeschke / Britta Kusch / Thomas Weigel (Hrsg.): Praemium virtutis. Grabmonumente und Begräbniszeremoniell im Zeichen des Humanismus, Münster 2002, 257-277.

[8] Frederick Hartt: Michelangelo. The Complete Sculpture, London 1969, 122-124.

[9] Die Bedeutung von "Vincoli" für die Selbstdarstellung Julius' II. hat Andreas Thielemann 2002 auf der römischen Tagung "Raffaello - pluralità e unità" am Beispiel der Stanza della Segnatura überzeugend nachgewiesen. Auch die Aufstellung des Laokoon im Statuenhof des Papstes sowie seine künstlerische Rezeption durch Michelangelo an der Sixtinischen Decke wären unter dem Gesichtspunkt einer Anspielung auf den "Vincoli-Namen" neu zu überdenken.

Michael Rohlmann