Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Band 1: Abendland - Beleuchtung, Stuttgart: J.B. Metzler 2005, 1186 S., ISBN 978-3-476-01935-6, EUR 169,90
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Die im Auftrag des "Kulturwissenschaftlichen Instituts" in Essen realisierte "Enzyklopädie der Neuzeit" (im Folgenden EdN) kann ohne Weiteres als das bisher größte interdisziplinäre Publikationsprojekt der deutschen Frühneuzeitforschung angesehen werden: In rund 4.000 Artikeln, die sich auf 15 Bände verteilen und durch einen Registerband zusätzlich erschlossen werden sollen, wird sich darin der Wissens- und Forschungsstand einer 'Subepoche' der neuzeitlichen Geschichtsforschung dokumentieren, die sich institutionell an den deutschen Universitäten nach 1945 bekanntlich nur sehr allmählich etabliert hat.
Das Werk, so das recht ausführliche Herausgebervorwort Friedrich Jaegers (VII-XXIV), führt den "Neuen Pauly" für das Altertum und das "Lexikon des Mittelalters" (im Folgenden LexMA) fort, allerdings "auf der Grundlage einer modifizierten Konzeption" (VII). Diese lässt an den hoch gesteckten Zielen keinen Zweifel: Man will interdisziplinär und allgemeinverständlich sein, übergreifendes Wissen vermitteln und doch Details bieten, dabei die Reflexion über den Wandel von Begriffen und Auffassungen nicht vernachlässigen. Wollte das LexMA vor einem Vierteljahrhundert noch in sichtlich unbefangenem Pragmatismus eine "Darstellung der Geschichte, Kultur und Lebensformen des gesamten europäischen Mittelalters unter Einbeziehung der schriftlichen Überlieferung wie der materiellen Kultur" schreiben [1], so geht es der EdN um nicht weniger als darum, den Stellenwert der Frühen Neuzeit hinsichtlich übergreifender kultureller Veränderungen zu beziffern und damit, so wortwörtlich, einen "Beitrag zur historischen Selbstaufklärung der Gegenwart" (VII) zu leisten. Zu diesem Zweck ist der Betrachtungszeitraum entgegen der vorwaltenden institutionellen Konventionenbildung zumindest im Fach Geschichte von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhundert bemessen worden: Er umschließt damit die klassische Frühe Neuzeit einschließlich des "Revolutionszeitalters", dessen Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts angesetzt wird, dem Beginn der eigentlichen "Moderne". Für diese 400 Jahre zeichnen insgesamt 80 "Teilherausgeber" aus zehn unterschiedlichen Bereichen vorwiegend der Geisteswissenschaften verantwortlich.
Das Gesamtwerk soll rund 100 "Schlüssel-", 900 "Dach-" und 3.000 "Einzelartikel" umfassen. Der vorliegende erste Band enthält 195 Artikel. Mit "Abendland" beginnt er dort, wo das LexMA bereits 42 Lemmata hinter sich gebracht hat. Der Grund für diese Reduktion ist weniger die deutlich stärkere Zurückstellung der materiellen Kultur gegenüber dem LexMA (in dessen erstem Band man etwa "Apfel", "Automat" oder "Becher" findet) als vielmehr die Auslassung von Regionen und Orten, von Personen und Familien. Man findet also die Anjou nicht und die portugiesischen Avis, Aachen und Augsburg genauso wenig wie Basel und Belgien. Diese Entscheidung ist nun allerdings konzeptionell viel zu schwerwiegend, als dass sie durch eine nur beiläufige, arbeitsökonomisch begründete Feststellung im Vorwort (VIII) plausibel gemacht würde, zumal mit der Auslassung der Orte offenbar die damit verbundenen Ereignisse verloren gehen: In diesem Band etwa die Friedensschlüsse von Aachen (1688, 1748), Amiens (1802) und Basel (1499, 1795), die Schlachten von Agnadello (1509), Abukir (1798) und - trotz des 200. Jahrestags - Austerlitz (1805) oder der Bayerische Erbfolgekrieg (1778-1779). Der "Augsburger Religionsfriede" wurde zum Glück für so wichtig gehalten, dass er nicht dieser Logik geopfert wurde. Die "Bastille" fand ob ihres Symbolwerts Aufnahme in die EdN, nicht aber die an unmittelbaren Opfern unvergleichlich fatalere "Bartholomäusnacht".
Neben der Zurückdrängung der Ereignisgeschichte sticht vor allem die der kirchlichen Kultur ins Auge: Gleich am Anfang stellt man fest, dass "Abendmahl" fehlt und unter "Sakrament" untergebracht wird, wo aber eine geringfügige Behandlung zu befürchten steht, da auch das "Augsburgische Bekenntnis" nicht einmal als Verweis auftaucht und im übergreifenden Artikel "Bekenntnis" bloß als Faktum erwähnt wird. "Abt"/"Äbtissin" kommen so wenig vor, wie der "Altarist"; "Antitrinitarismus" fehlt, "Aberglaube", "Anarchie", "Antiklerikalismus" und "Atheismus" aber werden berücksichtigt. Wo werden sich wohl die "Augustiner" und "Antoniter" wiederfinden? Vermutlich im angekündigten "Schlüsselartikel" über "religiöse Bewegungen" wie das ebenso fehlende "Augsburger Interim" vielleicht als Anhängsel zu "Reichstag". Man muss sich wundern, dass derlei zentralen Begriffen im Spektrum der kirchlich-religiösen Kultur kein Platz eingeräumt wurde, wohl aber "Aktenversendung" und "Arkanpolitik", "Balkentelegraph" und "Bänkelsang".
Es liegt auf der Hand, dass diese Praxis der Stichwortschöpfung nicht allein durch schiere Platznot, sondern durch eine Prämisse geleitet ist, die da nämlich lautet: "Nicht Statik und Traditionalität, sondern Aufbruch, Innovation und Veränderung definierten diese Periode in ihren wesentlichen Zügen" (IX). "Ausbildung", "Entstehung", "Entfaltung", "Aufstieg", "Expansion", "Ausbreitung" usw. sind in den jeweiligen thematischen Kombinationen die Attribute zehn namentlich aufgeführter "Transformationsprozesse" der Epoche (VIII-IX). Als deren erster wird - durchaus konventionell - die "Ausbildung des frühmodernen Staates" genannt. Daher versteht sich, dass beispielsweise das Begriffspaar "Amt"/"Beamter" großes Gewicht erhält und auf nicht weniger als sieben Lemmata verteilt wird ("Amt", "Ämterkauf", "Amtmann", "Beamtenausbildung", "Beamtenlehre", "Beamtenrecht", "Beamter"), wo vielleicht eines hinreichend gewesen wäre.
Die EdN trägt dem historischen Wandel der Vormoderne, der von der älteren deutschen Sozialgeschichte eben nicht anerkannt wurde [2], Rechnung und nimmt dies folgerichtig zum Anlass, ihren Betrachtungszeitraum weniger nach politik- als nach strukturgeschichtlichen Kriterien zu periodisieren. Allein diese reflektierte Konzeption ist in ihrer methodischen Ambitioniertheit eine anerkennenswerte herausgeberische Großtat, und es wird langfristig zu beobachten sein, ob und wie diese Rahmensetzung mit all ihren Implikationen die künftige Forschung beeinflussen wird. Mit ihrem unmissverständlich "expliziten Interpretationskonzept der neuzeitlichen Geschichte" (VIII) ist hingegen in Theorie und Praxis eine Engführung verbunden, insofern als die eher statischen Elemente der Frühen Neuzeit in den Hintergrund gerückt werden. Diese Präjudizierung des Wandels als Wesenskern der Epoche, die über mancherlei gegenläufige empirische und in der Sache schwer wiegende Befunde ziemlich unbekümmert hinweggeht (Beispiele: Schulwesen, Medikalisierung, lokales Verwaltungswesen), scheint bedenklicher als das eingeräumte, dabei doch mit praktischen Argumenten zu relativierende Defizit der vorwaltenden eurozentrischen Betrachtung (XII-XIII).
Eher pragmatischer Natur ist die Überlegung, ob das "Orientierungsbedürfnis" der (zumal nicht fachdisziplinär gebundenen) Leserschaft tatsächlich den Abstracta gilt, die sicher nicht allein in diesem ersten Band deutlich vorwiegend abgehandelt werden, ob also "Kontextualisierung" statt "Spezialisierung" von Wissen (VII) in dieser Konsequenz wirklich gewünscht wird. Für das schnelle Nachschlagen ist das Werk nämlich kaum besser geeignet, als es die hoch akademischen "Geschichtlichen Grundbegriffe" auf ihre Art sind. So sei die Frage erlaubt, ob die Kriterien für den im Vorwort knapp konstatierten "Verzicht auf ausschließlich für Spezialisten interessante Details" (VII) wirklich implizit klar sind, wenn andererseits mit "Alterität", "Anthropozentrismus" oder "Autonomieästhetik" moderne (man könnte auch sagen: modische) Theoriebildungen der Fachwissenschaften bedient werden?
Vor lauter relativierendem Diskurs mag mancher Benutzer jedenfalls nach festen Pflöcken im nicht immer festen Boden Ausschau halten. Wenn es etwa im Lemma "Absolutismus" heißt: "Zweifellos unterschied in der Frühen N[eu]z[eit] die franz[ösische] Regierungsform nicht sehr viel mehr von der engl[ischen], als beide verband", und diese - fraglos mangels Darstellungsraums - weder zeitlich noch sachlich präzisierte, schwerlich haltbare Aussage mit dem Verweis auf N. Henshalls nicht ohne Widerspruch gebliebene Studie von 1992 begründet wird, dann wird mehr Verwirrung gestiftet als Aufklärung geleistet. In der universitären Lehre wird es zu vermitteln sein, dass dieses Werk das maßgebliche Informationsmedium der "Neuzeit" sein wird, in der allerdings konzeptionell bedingt die Menschen und Orte gar nicht und die Geschehnisse der Geschichte nur in handverlesener Form vorkommen. Als 'Metalexikon', das über bestehende Nachschlagewerke teils deutlich hinausführt, diese aber eben nicht in jeder Hinsicht ersetzen will und kann, hat die EdN indes die Voraussetzungen dafür, ein Standardwerk zu werden.
Anmerkungen:
[1] So im Vorwort von Band 1 der ersten Auflage, München 1980, IX.
[2] Vgl. etwa Werner Conze: Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht (= Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen; H. 66), Köln / Opladen 1957, u. a. 20.
Stephan Laux