Rezension über:

Bettina Schaschke: Dadaistische Verwandlungskunst. Zum Verhältnis von Kritik und Selbstbehauptung in DADA Berlin und Köln (= Berliner Schriften zur Kunst; Bd. XX), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2004, 397 S., 108 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2496-2, EUR 78,00
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Rezension von:
Stefanie Muhr
Seminar für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Lars Blunck
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Muhr: Rezension von: Bettina Schaschke: Dadaistische Verwandlungskunst. Zum Verhältnis von Kritik und Selbstbehauptung in DADA Berlin und Köln, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/7511.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Bettina Schaschke: Dadaistische Verwandlungskunst

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Einem Konzept auf den Grund zu gehen, dem die Zerstörung jedweder Konstanz inhärent ist - diesem schwierigen Unterfangen widmet sich Bettina Schaschke in ihrer in der Reihe Berliner Schriften zur Kunst herausgegebenen Dissertation. Im Zentrum der Analyse stehen acht Werke der Dada-Zentren Köln und Berlin, an denen die Spannbreite und Entwicklung im Umgang mit dem Thema der Verwandlung im Zeitraum zwischen 1919/20 und 1921/22 aufgezeigt werden soll. Dabei entgeht die Autorin methodisch der Falle, sich konzeptionell einzuschränken und damit einem Gegenstand wie der Verwandlung dort Konstanz zu verleihen, wo sie per se vermieden wird, indem sie einen ikonologischen Ansatz mit einer Form- und Inhaltsanalyse kombiniert und im Sinne Warburgs öffnet. Ergänzend wird die Assoziation des Betrachters als vom Künstler möglicherweise intendierter und kalkulierter Standpunkt mitreflektiert, womit sich die Frage stellt, inwieweit trotz der dadaistischen Dementi Strategie im Spiel war und wie sich dann das Verhältnis von Inkonsistenz und Indifferenz zu einer doch plan- und damit sinnvollen Konzeption verhält.

Mit Begriffen wie Indifferenz, Elastizität und Simultaneität versucht Schaschke, die zentralen Maximen und Merkmale, ja den "dadaistischen Geisteszustand" zu fassen. Fragen nach dem Verhältnis von Kritik und Selbstbehauptung erweisen sich dabei als verwoben und unentrinnbar: "Als Werkzeug für den Umschlag von Kritik zur Selbstbehauptung diente den Dadaisten - so die These dieser Arbeit - die Transformation beziehungsweise die Verwandlung" (14). Dies als eine zentrale Strategie herauszuarbeiten, ist Ziel der Arbeit.

An vier exemplarischen Werken widmet sich die Autorin in den Kapiteln I und II dem Zusammenhang zwischen dadaistischer Selbstdarstellung und dem 'Geisteszustand' des "état d'esprit" (15). Wie aber lässt sich dieser état d'esprit in Worte fassen? Huelsenbecks Definition, Dadaist sein bedeute "sich von den Dingen werfen zu lassen, gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl gesessen, heißt das Leben in Gefahr gebracht zu haben", charakterisiert den Dadaisten als jemanden, der die Wirklichkeit "als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhytmen [sic!] erfährt" (25). Doch genügt es nicht, sich darauf zu berufen, wird doch gleich alles wieder in Frage gestellt: Ja und Nein zugleich zu sagen, absichtslos zu schreiben, immer zugleich die entgegengesetzte Handlung zu implizieren (26) - diesen Prozess in Worte zu fassen, ist Verdienst des Buches.

Der Aufbau folgt dem Schema einer Beschreibung der jeweiligen Bildstruktur, Skizzierung des Forschungsstandes und der Herangehensweise für jedes Einzelwerk, was dem Leser den Einstieg erleichtert, aber auch die Problematik der Heterogenität unterstreicht. Kontinuität in der Kontingenz, so möchte man angesichts der Verstrickung von Transformation und Simultaneität sagen. Die analoge permanente Dekonstruktion der Sprache wird ebenso analysiert wie der wichtige Hinweis auf die materielle Qualität der Wörter, ihre Tonalität. Wo keine Permanenz zu finden ist, bietet der Blick der Differenz Hilfe: Der Vergleich mit dem Futurismus (Raoul Hausmann und Carlo Carrà) soll in der Alterität die dadaistische Essenz zu Tage fördern. Während der Dadaist Gegenstände, Menschen und Laute "kompositorisch in ein simultanes Geflecht mit wechselnden Betrachterstandpunkten" gebracht habe, "wählte der Futurist einen Standpunkt von außen auf ein simultanes Geschehen, wenngleich dessen dargestellte kollektive 'Emotion' auf den Betrachter überspringen sollte - im Sinne des futuristischen stato d'animo" (52). Im Gegensatz zu Carrà verweigert der Dadaist Hausmann gerade jede Sogwirkung, indem er "den Betrachter durch ein Geflecht von Gegensätzen schickt" (52). Der Assimilierung folgt die ironische Brechung.

Mit der Gegenüberstellung von 'Ich' und 'Welt', der Verflechtung von 'Eigenem' und 'Fremden' sucht die Autorin, die Transformationsprozesse der Werkentstehung zu fassen. Der beschriebene Assimilierungsprozess, bei dem Themen, Attitüden und Motive der jeweiligen Gegner adaptiert, einverleibt und dann dekonstruiert werden, gehört zu den zentralen Themen der Arbeit. In der Symbiose mit dem "Gegner" liegt "vermutlich der funktionale Grund für die vordergründige Nichtfestlegbarkeit der Dadaisten auf ihre, auf eine Position und damit einhergehend für die Mehrdeutigkeit ihrer Werke" (189). Dieser nahezu kannibalistische Akt, den die Autorin mit dem Begriff der Einverleibung akzentuiert, wird allerdings auf der theoretischen Ebene belassen und weniger auf einer materiellen Ebene, die eine Collage implizieren kann, thematisiert.

Das spielerische Element der Verkleidung, des Identitätswechsels als Teil des angestrebten "dadaistischen Geisteszustandes" ist Gegenstand des dritten Kapitels. Dabei stehen die "Selbstdarstellungen als Verwandlungskünstler" im Vordergrund: Die Neigung zum Rollenspiel, die Taktik der Selbstverwandlung und -inszenierung. Durch das Vexierspiel von Maskierung und Demaskierung wird der direkte Blick auf den Portraitierten - wie in George Grosz' Remember Uncle August, the Unhappy Inventor - behindert (70 ff.). Auch hier hilft nur die Verbalisierung der Paradoxa, indem die "offene Verschlossenheit" (80), das absichtsvolle in-der-Schwebe-halten zum Ausdruck bringen muss, was nicht ausgedrückt werden kann. Eine explizite Reflexion der Unvollkommenheit der Sprache hätte man sich an solchen Stellen noch pointierter wünschen können. Dennoch erscheint die Verfahrensweise der Autorin, durch Kontextualisierung einerseits und Tiefenstrukturanalyse andererseits so wesentliche Phänomene wie die Synästhesie, die auch die materiellen (auditiven) Qualitäten als Charakteristikum herausstellt, in ihrer Polyperspektivität sinnvoll. "Stillstand ist der Tod, geh' voran, es bleibt alles anders", so möchte man mit Herbert Grönemeyer abschließend definieren: Kontinuität, Simultaneität, Elastizität, Synchronizität, Synästhesie bleiben die charakteristischen, schwer fassbaren Aspekte dadaistischer Kunstpraxis, die nur vor der Folie traditioneller und alternierender Verfahrensweisen greifbarer werden.

Ein großes Verdienst der Arbeit liegt in der Öffnung der Analyseverfahren und dem Herausarbeiten von Widersprüchlichkeiten. Dabei scheut die Autorin auch nicht den Blick auf breite kulturelle, aber vor allem auch naturwissenschaftlich-technische Bezüge (Kapitel IV), angefangen mit Albert Einstein über Freud hin zur Paläontologie, wenn sie, wie plausibel gezeigt wird, für den Künstler eine Rolle spielten. Was als Deutung dadaistischer Verwandlungskunst angekündigt wird, ist ein kultur- und wissenschaftsgeschichtlicher Streifzug, der das enorme Spektrum dadaistischer Erfahrungswelt in ihrer ausgreifenden Assimilierung und Adaption jeglichen Gedankenguts aufzeigt. Dass die Autorin sich nicht darauf ausruht, sondern die werkimmanente Betrachtung vor dieser Folie kritisch überprüft und oft noch in den Vergleich kunsthistorischer Tradition stellt, zeigt den hohen Reflexionscharakter. Die Vorgehensweise der Dadaisten - beispielhaft an Max Ernst exemplifiziert -, literarische Quellen und naturwissenschaftliche Phänomene zu zitieren und kombinieren, hätte noch auf einer tieferliegenderen Interpretationsstruktur analysiert werden können: die Zerlegbarkeit von Worten in Buchstaben und Silben, die Zerlegbarkeit der Materie in Atome, und die kontingente Kombinationsmöglichkeit wäre eine mögliche ergänzende Interpretationsform.

"Dadas Kritik erschließt sich dem Betrachter", wie Schaschke resümiert, "nur nach einer langen Indiziensammlung - momenthaft" (338). Diese Indiziensuche gleicht formal einer Archäologie im Sinne Foucaults, die Strukturen, Episteme und Diskurse aufzudecken vermag - Begriffe und Anknüpfungspunkte, auf die die Autorin hier sinnvollerweise verzichtet, da dadaistische Kunst gerade nicht die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses anstrebt, auch wenn uns die adaptierten kulturgeschichtlichen Hintergründe etwas anderes suggerieren. Immer wieder offenbart sich im dadaistischen Oeuvre eine Form der Strategie, die sich in Prozessen der Verwandlung und Verpuppung schnell entzieht (338). Das Potenzial der Mehrdeutigkeit wird direkt vom Künstler/der Künstlerin als "probates Mittel im Umgang mit Gegnern und den treffenden Ausdruck von Leben sowie ihrer Anschauung davon" (338) mitgeliefert. Das je 'Eigene', dadaistische, gewinne nur in dem vom Betrachter mitgedachten 'Fremden' an Schärfe und Kontur. Schaschke benennt abschließend drei Schritte zur Erschließung der dadaistischen Technik von Kritik und Rezeption des Betrachters: "Benennbar und erkennbar wird der Gegenstand der Kritik für den Betrachter durch ein indirektes Zitat. An diesem sind dann Modifikationen, Zusätze und Verschiebungen in einen anderen Kontext auszumachen. Hierdurch vermittelt sich dem Betrachter das Absetzen des Dadaisten, sein Loslösen von dem jeweiligen 'Vorbild', sodann auch die dadaistische Selbstproklamation als Verwandler und Verwandelter. Voraussetzung für diese Taktik ist die Collage-Technik mit dem Werkzeug der Transformation" (339).

Was die ausführliche Analyse ein wenig vermissen lässt, aber der akribischen Struktur der Arbeit geschuldet ist, ist der Aspekt der Lust am Spiel und der trotz aller Politisierung und Kontextualisierung spielerischen Form, die zwar beschrieben, aber nicht transportiert wird. So wird das Spiel mit großem Ernst pariert. Dort hätte man sich vielleicht etwas Mut zur Leichtigkeit gewünscht.

Stefanie Muhr