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Josette Grandazzi: Primatice. Maître de Fontainebleau, Paris: Réunion des Musées Nationaux 2004, 528 S., zahlr. Abb., ISBN 978-2-7118-4772-3, EUR 60,00
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Rezension von:
Andreas Tönnesmann
Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Tönnesmann: Rezension von: Josette Grandazzi: Primatice. Maître de Fontainebleau, Paris: Réunion des Musées Nationaux 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/8034.html


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Josette Grandazzi: Primatice. Maître de Fontainebleau

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Primaticcio oder Primatice? Sich für eine Schreibweise zu entscheiden, heißt den Blickwinkel wählen, unter der man diesen ungewöhnlichen Künstler betrachten will. 1504 in Bologna geboren, steht schon der 20-Jährige in Kontakt mit dem Haus Gonzaga, dem er Antiken und andere Kunstwerke aus Venedig nach Mantua vermittelt. Francesco Bologna pittore wird er damals noch genannt. Zwei Jahre später ist dieser Francesco dann bereits unter seinem Familiennamen an der Ausstattung des Mantuaner Palazzo del Te beteiligt, der an Europas Höfen damals meistbeachteten Baustelle. Alles spricht dafür, dass Primaticcio hier nicht mehr im erlernten Malerberuf tätig war, sondern als Stuckateur für die exquisite Ausstattung der sala delle Aquile Verantwortung trug.

Schon am Anfang seiner Laufbahn hat sich Primaticcio also auf verschiedenen Gebieten profilieren können - als Antikenkenner und Kunstagent, Maler und Bildhauer. Das Selbstporträt der Uffizien, sicher in diesen Jahren entstanden, verrät eine entsprechende Lässigkeit des Auftretens: Der junge Künstler, den François Ier 1532 nach Fontainebleau beruft, ist alles andere als ein unsicherer Anfänger. Obwohl am französischen Hof zunächst nur zweite Wahl - der König hatte mit Giulio Romano eigentlich den Chef des Mantuaner Ateliers verpflichten wollen -, weiß er durchaus, was er wert ist. Der Souverän wird einen Glücksgriff tun, scheint das Bild sagen zu wollen. Stellt er mit Primaticcio doch einen typischen Exponenten der zweiten Raffael-Schule ein, der in den verschiedensten Gattungen, Techniken und Medien des höfischen Kunstbedarfs selbstverständlich zu Hause ist und damit zur Intendanz eines modernen, das heißt arbeitsteilig organisierten Ateliers nach Mantuaner Vorbild prädestiniert erscheinen muss.

Nur zu Anfang steht der Jüngere im Schatten von Rosso Fiorentino, der schon einige Jahre vor ihm nach Fontainebleau gekommen ist und dort mit der Ausstattung der Galerie François Ier bereits begonnen hat. Nach dessen Tod rückt er prompt in die Leitung der Hofwerkstätten auf, erhält Zugang zu Pfründen und Ämtern: Aus Primaticcio wird Primatice - ein Künstler, der offenbar nicht nur durch sein Können zu überzeugen versteht, sondern auch die Klaviatur der höfischen Diplomatie souverän beherrscht. Andernfalls wäre ihm kaum gelungen, woran andere Italiener - Benvenuto Cellini etwa - spektakulär scheiterten: sich rasch in einer ihm fremden Etikette und Sprache zurechtzufinden, ja die kommunikativen Codes einer von Italien höchst differenten Gesellschaft und Kultur so vollständig zu adaptieren, dass er sich auf Lebenszeit (er stirbt 1570 mit Ehren überhäuft) in Diensten der französischen Könige behaupten kann.

Die große Schau, die der Louvre vor einem Jahr Primatice widmete und deren Katalog hier zu besprechen ist, stand nicht für sich. Sie krönte vielmehr eine höchst bemerkenswerte Ausstellungsserie, der es unter dem Titel L'Italie à la cour de France gelang, die italienischen Anfänge der französischen Renaissance wirklich in den Horizont der nationalen Kulturüberlieferung zu integrieren. Gewiss hatte die französische Kunstgeschichte hier schon vorher Bedeutendes geleistet, es genügt, an die Namen Louis Hautecoeur oder Sylvie Béguin zu erinnern. Aber ins Bewusstsein einer großen Öffentlichkeit zu rücken, dass am Beginn der France moderne eben keine autochthone Entwicklung, sondern ein historisch kaum vergleichbarer Akt des Imports und Kulturtransfers gestanden hat, war ein bedeutender Schritt.

Auch die Akzente, die das Haus dabei setzte, darf man keineswegs als selbstverständlich verbuchen. Denn während einem gut fassbaren Künstler wie Rosso lediglich eine kleinere Schau mit dem imposanten Louvre-Bild des toten Christus im Zentrum konzediert wurde, wartete Primatice im Hall Napoléon mit nahezu 300 Exponaten auf. Kaum eines von ihnen besaß eye-catcher-Qualitäten; neben einer kleineren Zahl von Gemälden, Skulpturen und Objekten waren vor allem Zeichnungen und Drucke zu sehen. Ihnen kam die heikle Aufgabe zu, stellvertretend auf ein Œuvre zu verweisen, das in der Hauptsache aus Raumkunst besteht, sich also nicht in eine Ausstellung transportieren lässt, und dessen gewichtigste Äußerung obendrein seit mehr als 150 Jahren verloren ist: die Galerie d'Ulysse im Schloss Fontainebleau. Ob diese rekonstruktive Zielsetzung, anspruchsvoll und kaum Besucherrekorde versprechend, in der Ausstellung auch wirklich zum Tragen kam, ist eine eigene Frage. Im Katalog findet man sie jedenfalls substanziell eingelöst.

Nicht obwohl, sondern gerade weil Primatice nur wenig Eigenhändiges schuf, rückt er für die heutige Forschung und für die Autoren des Katalogs ins Zentrum der französischen Renaissance. Denn François Ier hatte ja deshalb nach einem Mantuaner Künstler gesucht, weil er exakt das dirigistische, an Raffael orientierte Organisationsmodell einer modernen Hofwerkstatt für sich nutzen wollte, dem im Europa des 16. Jahrhunderts die Zukunft gehören sollte. Diese Kunstpraxis war ganz auf die perfekte Ausführung räumlicher Dekorationsensembles abgestimmt und hatte vielfach sogar für deren angemessene Bespielung bei wichtigen Anlässen zu sorgen. Räume der Macht so zu gestalten, dass sie keinen Vergleich zu scheuen brauchten und unverwechselbar für sich sprachen - das wurde in Fontainebleau und einer ganzen Reihe nachgeordneter Aufträge die eigentliche Aufgabe Primaticcios. In seiner Funktion als Kunstintendant war er schon bald, spätestens seit 1540, den Zwängen der Werkausführung enthoben. Seine Pflicht erschöpfte sich im Entwurf, das heißt im Zeichnen oder auch nur Skizzieren - und natürlich in der mündlichen Anweisung, die wir nicht mehr nachvollziehen können und als deren unvollkommenes Substitut das zeichnerische Material heute herhalten muss.

Der Katalog lässt dieses Phänomen durchaus deutlich werden, verspielt aber die Chance, es eigens zum Thema zu machen. Denn überraschend brav halten sich die einleitenden, durchweg seriösen Essays an Gattungen und Techniken - die Primaticcio in seiner Praxis doch geradezu täglich überschritt und zu immer neuen Aggregatzuständen verschmolz. Dominique Cordellier äußert sich knapp zu Forschungsperspektiven, dann schreibt Vittoria Romani zu Malerei und Zeichnung, Geneviève Bresc-Bautier zur Skulptur, Catherine Jenkins zur Grafik. Auch Nachwirkung (Marianne Grivel) und Sammlungsgeschichte (Bernadette Py) kommen zur Sprache, doch fehlt merkwürdigerweise die Architektur, die - wie die Ausstellung vielfach zeigt - durchaus ins Aufgabenspektrum des Hofkünstlers gehörte. Etwas weniger Seriosität, kompensiert durch größere gedankliche Experimentierfreude, wäre manchem dieser Beiträge gut bekommen.

Die wichtigsten Einsichten eröffnet im Folgenden die Dokumentation der Exponate, nach Werkzusammenhängen chronologisch geordnet und deshalb Gattungsgrenzen endlich überspringend. Hier ist Material von großem Reiz ausgebreitet, erstmals in dieser Fülle, dabei stets verlässlich kommentiert und mit erheblichem Zuwachs an materiellem Forschungswissen verknüpft. Ein wesentlicher Gewinn der Ausstellung lag darin, Primaticcios Gemälde an einem Ort versammelt zu haben - aber die Malerei allein hätte den Ruf und die grandiose Nachwirkung dieses Künstlers nie begründen können. Selbst ein technisch singuläres Bild wie die St. Petersburger Heilige Familie auf Schiefer, so klar es die experimentelle Haltung des Malers zeigt (gern hätte man mehr über den Zustand erfahren), formuliert doch kaum mehr als eine Fußnote der Kunstgeschichte.

Was stattdessen, auch dank exzellenter Abbildungen, geradezu überwältigend Präsenz gewinnt, sind Primaticcios Zeichnungen. Ihre Ausnahmequalität springt geradezu ins Auge, etwa in den famosen Entwürfen für die Galerie d'Ulysse. Der ganze Kompetenzumfang des Künstlers spiegelt sich in den Blättern wider, bis hin zu Ornamentvorlagen, zu delikaten Entwürfen für Emails und Tapisserien. Hier wird sofort einsichtig, warum die figurative Fantasie und manuelle Meisterschaft dieses Künstlers einen bis dahin einzigartigen Rezeptionsprozess in Gang setzen konnten. Auch dieser gewinnt in zahlreichen Beispielen eindrucksvoll Profil: Was die Ecole de Fontainebleau eigentlich war, welche Entwicklungen sie anstieß und wie weit ihre Grenzen reichten, konnte man in solcher Anschaulichkeit bisher nicht in Erfahrung bringen.

Die Forschung wird lange brauchen, bis sie den Stoff, den ihr dieser gehaltvolle Band vor allem im Katalogteil bietet, wirklich verarbeitet hat. Vielleicht geschieht dies eines Tages in einer Primaticcio-Monografie, die nach wie vor zu den Desideraten des Faches gehört. Hier darf dann Platz gewinnen, wofür ein kollektiv erstellter Ausstellungskatalog selten gut ist: Durchgehendes, konzises Argumentieren im Nachvollzug eines großen Œuvres und vor allem eine neue Diskussion jener Probleme, die mit Kunstpatronage, genauer mit Auftraggeberintention zu tun haben. Wer sich - orientiert an aktueller Manierismusforschung - für solche Fragen interessiert, fühlt sich bei der Lektüre des Pariser Primatice doch recht allein gelassen.

Andreas Tönnesmann