Elisabeth Vavra (Hg.): Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.-26. März 2003, Berlin: Akademie Verlag 2005, X + 386 S., 72 Abb., ISBN 978-3-05-004129-2, EUR 59,80
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Elisabeth Vavra (Hg.): Imaginäre Räume: Sektion B des internationalen Kongresses "Virtuelle Räume" Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007
Vorgelegt werden Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, das in Krems vom 24. bis 26. März 2003 stattfand. Organisiert wurde die Tagung vom Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der vorliegende Band umfasst 21 Beiträge aus vier der fünf Sektionen. Die Vorträge aus der zweiten Sektion sollen in einem weiteren Band in der Publikationsreihe des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit erscheinen.
Mit dem Thema der Tagung, "virtuelle Räume", sollte nach Aussage der Herausgeberin im Vorwort erstens ein bewusst provokanter Titel gewählt werden; zweitens sollte der Begriff "Raum" für die Beitragsauswahl eingeschränkt werden. Definiert wird der Begriff des virtuellen Raums für die Tagung folgendermaßen: ein "Raum, der immer dann entsteht, wenn reale topographische Koordinations- und Raumstiftungselemente durch Konstituenten anderer Kategorien überformt werden" (IX). Was mit Überformung gemeint ist, wird aus den Themen der einzelnen Sektionen deutlich. So ging es in der ersten Sektion um die Überlagerung von realem Raum durch alternative Wahrnehmungsmuster, in der Zweiten um die Konstitution von realem Raum, in der Dritten um die Inszenierung von imaginären Räumen, in der Vierten um Raumwahrnehmung und in der Fünften um Raumtranszendierungen. Eine Untergliederung der Beiträge in diese Sektionen oder eine Untergliederung anderer Art wurde für das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Bandes allerdings nicht vorgenommen. Es sollen daher zur Erleichterung des Lesens hier drei Gruppen von Beiträgen vorgestellt werden, die sich inhaltlich durch ihren jeweiligen Forschungsgegenstand bilden lassen.
Die größte Gruppe der Beiträge (acht an der Zahl) befasst sich mit Texten. Einen Schwerpunkt innerhalb dieser Gruppe wiederum bilden fünf Beiträge zur höfischen Literatur. Ralf Schlechtweg-Jahn und Sebastian Baier analysieren Gottfried von Straßburgs Tristan für ihre jeweilige Fragestellung. Ralf Schlechtweg-Jahn untersucht den mittelalterlichen Hof als virtuellen Raum, wobei er auf sehr überzeugende Art und Weise seine Argumentation in die Forschung zum virtuellen Raum einbindet. Sebastian Baier beschäftigt sich mit der Erzeugung von Intimität durch einen bestimmten Raum und die Veränderung des Raums durch intime Kommunikation. Um einen Bezug von Raum und Körper geht es auch bei Christina Lechtermann: Sie erörtert, wie in der höfischen Literatur der Raum "vom Körper her gedacht werden kann" (175). Eine vom Körper ausgehende Raumwahrnehmung ist ebenfalls der Ausgangspunkt des Beitrags von Karina Kellermann, in dem der weibliche Blick in der höfischen Literatur "als Medium des Raumwechsels" (332) dargestellt wird. Mit dem männlichen Gegenpart dazu - so Karina Kellermann (341) - beschäftigt sich Claudia Brinker-von der Heyde. Sie verwendet in ihrer sehr interessanten Studie das Konzept des Zwischenraums für den handlungsfreien Raum zwischen den Âventiuren der Ritter als limenale Zone.
Ein Zusammenfallen von architektonischem und mentalem privaten Raum in Texten und Bildern aus dem England des Spätmittelalters analysiert Annette Kern-Stähler. Sie schließt an die breite Forschung zum Gegensatzpaar privat/öffentlich an. In ihrer Untersuchung zur Enzyklopädik und zum Minnesang des 13. Jahrhunderts geht es Ursula Kundert um die "virtuellen Räume der menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisinstanzen" (132). Michael Grünbart legt in seinem Beitrag zum byzantinischen Brief Entstehung und zurückgelegten Raum des Briefes sowie Ortsbeschreibungen im Brief dar. Allerdings verwendet er in seinem Aufsatz ein sehr simples, an die Geografie gebundenes Konzept des Raums, das nicht ganz zum Tagungskonzept passt.
Mit visuell erfassbaren Gegenständen beschäftigen sich vier Beiträge. Den sich für das Thema "virtuelle Räume" anbietenden St. Galler Klosterplan untersucht Alfons Zettler. Er bespricht Konzeption und Entstehungsprozess des Plans, und dessen Oszillieren zwischen dem Raumkonzept einer "realen monastischen Lebenswelt" einerseits, und einem "theologisch-spekulativ[en], virtuellen, jenseitige[n]" Raumkonzept (44) andererseits, das vor seinem Benutzungshorizont als exemplum betrachtet werden muss. Um reale Architektur hingegen geht es im Beitrag von Michael Viktor Schwarz zu St. Veit in Prag; er interpretiert die Architektur der Kathedrale als Medium und "Erlebnisstruktur" (68). Mit Räumen in Bildern befassen sich die Beiträge von Götz Pochat und Katja Kwastek. Götz Pochat analysiert Raumdarstellungen (eigentlich Darstellungen von Räumlichkeit) in Bildern (hauptsächlich der Buchmalerei) aus dem Zeitraum 400-1100. Er geht dabei chronologisch vor und hebt Unterschiede und Kontinuitäten hervor. Leider bleibt der Begriff "virtuell" in diesem Beitrag unklar. Katja Kwastek untersucht Raum- und Traumdarstellungen in der Malerei des italienischen Tre- und Quattrocento. Sie greift dabei die Themen noch einmal auf, die Wolfgang Kemp und Steffen Bogen in jüngerer Zeit behandelt haben. [1] In einem abschließenden Teil untersucht Katja Kwastek Parallelen zwischen dem im Bild dargestellten Raum und den tatsächlichen Wohnräumen der Zeit und greift dabei auf das Thema ihrer Dissertation zurück.
Während die Figur des Beobachters für die Beiträge der ersten Gruppe konstitutiv ist, spielt der Betrachter erstaunlicherweise in den zuletzt besprochenen Beiträgen kaum eine Rolle. Dabei ist er in der Forschung zur Virtualität durchaus entscheidend: "In virtuellen Realitäten spielen Akteure eine doppelte Rolle: Sie sind externe Beobachter und zugleich einbezogene Teilnehmer". [2] Dieser performative Aspekt wäre im Kontext eines Diskurses zum virtuellen Raum, wie er im Verhältnis zu Bildern (ent)steht, ein interessantes Thema gewesen.
Eine dritte Gruppe von Beiträgen behandelt die räumlichen Umstände von Festen, Zeremonien und der Liturgie. Gerrit Jasper Schenk untersucht eine Überlagerung von realen und imaginären Räumen zu einem virtuellen Raum bei Herrschereinzügen in Städte des Reiches (218). Er kommt im letzten Teil seiner Studie zu interessanten Interpretationen der Verwendung von Tragehimmeln und Reliquien, als Zeichen eines virtuellen Raumes. Sonja Dünnebeil untersucht in ihrem Beitrag zu den Ordensfesten des Ordens zum Goldenen Vlies den Wechsel von öffentlicher Präsentation einerseits und Verheimlichung andererseits.
Hanns Peter Neuheuser stellt in seiner Studie die mittelalterliche Kirchweihliturgie als Quelle für eine Raumwahrnehmung und Raumdeutung im Mittelalter dar. Er beschreibt detailliert die verschiedenen Abschnitte und Ebenen der Kirchweihliturgie und zeigt ihren Verweischarakter auf die Weltaneignung durch Christus. Antje Fehrmann untersucht die Wahrnehmung und Beschreibung dreidimensionaler Festarchitektur in England um 1400. Sie hebt dabei besonders eine veränderte Raumwahrnehmung hervor, hin zu einer präzisen Beschreibung des Illusionismus der Kulissen und ihrer Unterscheidung von wirklicher Architektur durch Zusätze, wie etwa 'als ob' oder 'wie' (304).
Bedauerlich ist, dass dem Band im Vorwort keine Ergebniszusammenfassung der Tagung vorangestellt wird. So ist nicht zu erkennen, inwieweit die Definition des virtuellen Raums, die der Call for Papers enthielt (und die im Vorwort so wiederholt wird), sich im Laufe der Beiträge und Diskussionen veränderte oder bestärkte. Die Beiträge bleiben in dieser Hinsicht daher sehr divers. Einige Autoren setzen ihren Beitrag nicht explizit in Relation zum Thema der virtuellen Räume (Michael Jucker, Annette Kern-Stähler, Hanns Peter Neuheuser, Karina Kellermann, Michael Grünbart, Marcello Garzaniti), andere binden ihren Untersuchungsgegenstand sehr stark in den Diskurs zur Virtualität ein (besonders Ralf Schlechtweg-Jahn, Ursula Kundert, Katja Kwastek, Christina Lechtermann, Gerrit Jasper Schenk). Wenn diese Unterschiede in der Ausrichtung auf die Zentralidee während der Tagung vermutlich durch die Einteilung in thematische Sektionen nicht so offensichtlich wurden, liest man die Beiträge eines Sammelbandes unter dessen Titel. Eine Zusammenstellung der Diskussionsergebnisse hätte dem Leser hier also sehr geholfen.
An den Beiträgen der ersten Gruppe lässt sich erkennen, dass die Forschung zur Virtualität insbesondere in der Literaturwissenschaft rezipiert worden ist, während Konzeptionen und Überlegungen der Veröffentlichungen zum Thema (etwa von Elena Esposito und Sybille Krämer) in einige Beiträge der zweiten Gruppe noch nicht intensiv eingeflossen sind. Dass der Begriff der virtuellen Räume für das Mittelalter generell sehr ertragreich ist, zeigt zum Beispiel die Habilitationsschrift von Haiko Wandhoff: "Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters" (2003).
Insgesamt verschafft der vorliegende Band einen guten Überblick über die jüngste Forschung zum Thema Raum. Angesprochen werden Schwerpunkte der Forschung zum mittelalterlichen Raum, wie Privatheit und Öffentlichkeit, Intimität, und den Zusammenhang zwischen Raum und Körper. Die disziplinäre Vielfalt und die Verschiedenartigkeit der Ansätze und Methoden sind außerordentlich anregend und fruchtbar.
Anmerkungen:
[1] Vor allem: Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler: zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996; und Steffen Bogen: Träumen und Erzählen. Selbstreflexion in der Bildkunst vor 1300, München 2001.
[2] Sybille Krämer: Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen symbolischer Formen, in: Gianno Vattimo / Wolfgang Welsch (Hg.): Medien - Welten - Wirklichkeiten, München 1997, 36.
Tina Klippel