Hartwig Brandt / Ewald Grothe (Hgg.): Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1815-1870 (= Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe; Bd. 44), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, XXII + 234 S., ISBN 978-3-534-12775-7, EUR 65,90
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Innerhalb der bereits vielbändigen, renommierten Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe ist die hier vorzustellende Quellensammlung ein weiterer Band, der sich der historisch ereignisreichen Epoche zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung zuwendet [1], und zugleich der zweite Band, der dem interessierten Publikum eine Sammlung von Quellen zur Alltagsgeschichte der Neuzeit anbietet. [2] Die Reihe beansprucht für sich, dem Historiker wie dem allgemein an Geschichte Interessierten den Zugang zu wesentlichen Prozessen und Figuren deutscher Historie zu ermöglichen sowie zentrale Quellen für den universitären Unterricht zu präsentieren. Eine alltagsgeschichtliche Quellensammlung zu der epochalen Umbruchszeit zwischen 1815 und 1870 sieht sich dabei mit vielfältigen Erwartungen konfrontiert: So möchte der Leser erfahren, wie sich mit der einsetzenden Industrialisierung das Leben in Stadt und Land veränderte, wie die neuen Herausforderungen an die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln auf die Lebensqualität einwirkten, wie Lebensgewohnheiten und Freizeitverhalten durch die Politisierung der Gesellschaft und eine zunehmende Öffentlichkeit beeinflusst wurden oder wie Politik, Krieg und Religion in die Lebenssphäre der Menschen unmittelbar hineinwirkten. Diesen Ansprüchen wird der Quellenband insgesamt gerecht, ohne allerdings die Möglichkeiten einer derartigen Sammlung voll auszuschöpfen.
Die Herausgeber publizieren insgesamt 117 Dokumente, die sie sinnvollerweise nicht chronologisch, sondern in thematischen Blöcken vorlegen. In ihrer Auswahl konzentrieren sie sich auf literarische Quellen mit "Erlebnisqualität" (11), die beispielsweise in Form von Briefen, Tagebüchern, Reiseberichten oder Expertisen entweder eigene Erinnerungen oder Beobachtungen von Zeitgenossen wiedergeben. Nahezu keine Berücksichtigung fanden archivalische und andere ungedruckte Zeitzeugnisse. In räumlicher Hinsicht darf die Sammlung als repräsentativ für die Alltagsgeschichte der Deutschen gelten, gibt sie doch Stimmen aus der Metropole und Kleinstadt sowie vom flachen Land, aus Schleswig-Holstein und Bayern, aus dem Rheinland und Schlesien wieder. Neben so bekannten Persönlichkeiten wie Ludwig Börne, Theodor Fontane oder Rudolf Virchow, wie Fanny Lewald oder Louise Otto(-Peters) lässt die Quellenausgabe als Zeitzeugen vielfach ebenso den "kleinen Mann" zu Wort kommen, sodass aus dem breiten sozialen Spektrum der Gesellschaft heraus unterschiedliche Sichtweisen auf den Alltag projiziert werden.
Dem Corpus wurde gemäß der Gesamtkonzeption der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis eine nur kurze Einleitung vorangestellt. Diese reflektiert unter geschichtstheoretischen und historiografischen Aspekten die Etablierung der Alltagsgeschichte in der bundesdeutschen Forschung und grenzt diese sowohl von der politischen Historiografie als auch von der Historischen Sozialwissenschaft ab. Mit diesem Duktus nimmt die Einleitung zwar eine Wertung zum Forschungsstand vor, für den Leser aber bleibt sie neben dem Quellenmaterial stehen. Viel zu knapp fallen die Erläuterungen zur getroffenen Quellenauswahl aus. Damit verzichten die Herausgeber nicht nur auf eine nähere Vorstellung der einzelnen berücksichtigten Autoren, sondern leider auch völlig auf eine Verortung der Dokumente in die damaligen Zeitläufte. Nicht nur dem unkundigen Leser dürften sich deshalb Einordnung, Aussagekraft und Bewertung mancher Quelle nur schwer erschließen. Dieser Verzicht wiegt umso schwerer, als auch den Dokumenten - anders als in anderen Bänden der Reihe - keine inhaltlichen Kurzregesten vorangestellt sind und sich das Personenregister auf eine erklärende Angabe beschränkt. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Band mit seinem Verzicht auf archivalische Fundstücke bei der Dokumentenauswahl sowie seiner Sparsamkeit in der inhaltlichen wie editionstechnischen Aufbereitung bei Geschichtsstudenten jene Neugier zu erwecken vermag, die dazu anspornt, auf der Suche nach den Quellen selbst ins Archiv zu gehen und sich hilfswissenschaftliches Rüstzeug zur Auswertung von Quellen anzueignen.
Als sehr dienlich erweist sich hingegen die Zuordnung der Quellen zu 15 Themenblöcken, womit der Alltag im Deutschland des 19. Jahrhunderts unter verschiedenartigem Zugriff eingefangen wird. Nach einem ersten, teilweise analytisch ausgerichteten Dokumententeil zu "Signaturen der Zeit" folgen Schriftstücke, die "Orte, Regionen, Stadt und Land" des alltäglichen Lebens beschreiben. Dem schließen sich zeitgenössische Äußerungen zu elementaren Lebensbereichen wie "Wohnen, öffentliche Hygiene und Umwelt", "Ernährung, Armut, Krankheit" und "Mann und Frau, Kinder, Geburt und Tod" an. Der nachfolgende Block beschränkt sich auf "Die bürgerliche Familie", sodass zu diesem zentralen Aspekt von Alltagsgeschichte bedauerlicherweise proletarisches und ländliches Familienleben ausgeklammert bleibt. Besonders vielfältig dagegen erweisen sich die Abschnitte zu "Landwirtschaft und Gewerbe" und "Bildung, Ausbildung, akademische Berufe". Ebenfalls vornehmlich im subjektiv zu bezeichnenden Erlebnisbereich von Alltagsleben erfolgen interessante Blicke auf "Religiöse Mentalität und Kirche", die dennoch keine allgemeine Aussagekraft besitzen. Verallgemeinernde Folgerungen dagegen lassen die präsentierten Wortmeldungen zu "Mobilität: Verkehr, Reisen, Migration" und zu den verschiedensten Teilbereichen des "Kulturellen Lebens" zu. Alltag findet aber nicht nur in dem unauffälligen, gleichförmigen Handeln und Erleben der Menschen statt, sondern auch auf der öffentlichen Bühne von Politik und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Demgemäß stehen am Ende der Quellensammlung vier Themenblöcke zum "Hof", zu "Orten und Riten der Politik", zum "Inneren Konflikt", der sich an den Begriffen Protest, Kriminalität und Strafe festmachen lässt, sowie zum "Äußeren Konflikt", der mit Schilderungen über Militär und Krieg eingefangen wird.
Diese thematisch gewählte und an literarisch ansprechenden Texten belegte Spannbreite von Alltag ist hervorhebenswert. Kolorit der Zeit sowie gelebte und erlebte Atmosphäre damaligen Alltags werden dem heutigen allgemein interessierten Leser unaufdringlich nahe gebracht. Das Quellenlesebuch vermittelt einen vielgestaltigen Eindruck davon, dass sich Deutschland zwischen 1815 und 1870 in einem enormen Modernitätssprung von der agrarisch geprägten Einzelstaatlichkeit zu einer der politisch wie ökonomisch führenden Nationen entwickelte. Eine ausführlichere inhaltliche Kommentierung durch die Editoren hätte diesen Einblick freilich gewinnbringend vertiefen sowie die beabsichtigte Nutzung dieser Quellenauswahl in der universitären Lehre stärker fundieren können.
Anmerkungen:
[1] Bisher für diese Epoche unter anderem: Hans Fenske (Hg.): Quellen zur deutschen Revolution 1848-1849, Darmstadt 1996, Bd. 24; Elisabeth Dross (Hg.): Quellen zur Ära Metternich, Darmstadt 1999, Bd. 23; Walter Steitz (Hg.): Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, Darmstadt 1980, Bd. 36 sowie innerhalb der zugeordneten Reihe "Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert zum Beispiel Hans Fenske (Hg.): Der Weg zur Reichsgründung 1850-1870, Darmstadt 1977, Bd. 5, Hartwig Brandt (Hg.): Restauration und Frühliberalismus 1814-1840, Darmstadt 1979, Bd. 3 bzw. Hans Fenske (Hg.): Vormärz und Revolution 1840-1849, 3. Aufl., Darmstadt 2002, Bd. 4.
[2] Innerhalb der Ausgabe bisher lediglich unter dem Reihentitel: Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen vom Mittelalter bis heute, der Band 7 von Jens Flemming, Franz Josef Schmale, Winfried Baumgart (Hg.): 1871-1914, Darmstadt 1997.
Bärbel Holtz